DESIGN DISKURS
Mit „Schools of Departure“ hat die Stiftung Bauhaus Dessau einen digitalen Atlas ins Leben gerufen, der die internationalen Verflechtungen der Bauhaus-Lehre mit anderen reformorientierten Designschulen im 20. Jahrhundert aufzeigt. Die Initiator*innen Regina Bittner, Katja Klaus und Philipp Sack berichten im Gespräch mit Gerda Breuer über das Aufbrechen der bisherigen Geschichtsschreibung, das Erbe der historisch geformten Autorität des Bauhauses und den Atlas als fortlaufendes partizipatives Projekt.
Bei der Stiftung Bauhaus Dessau im ehrwürdigen ehemaligen Bauhausgebäude von Walter Gropius vermutet man eher eine museale Institution. Dass die Stiftung aber nach wie vor auch eine Bildungseinrichtung ist, wie das historische Staatliche Bauhaus selbst, wissen nur wenige. Dabei führt sie seit vielen Jahren Programme durch wie die Open Studios, das Master Programm COOP Design Research oder das Bauhaus Lab. Nun hat die Stiftung ein weiteres Programm aufgelegt. Unter dem Titel „Schulen des Aufbruchs/Schools of Departure“ hat sie 2022/23 E-Journale und zwei kleine Bändchen (verlegt von Spector Books) herausgegeben, die auf die vielfältigen Verflechtungen aufmerksam machen, in die die Bauhaus-Pädagogik nach Ende der historischen Schule im Jahr 1933 involviert war. Beschrieben werden Reformprojekte in Brasilien, Albanien, Schweden, Großbritannien, dem ehemaligen Jugoslawien und in vielen anderen Ländern, auch in Deutschland. Hinzu kommt ein digitaler Atlas, der fortlaufend interaktiv genutzt werden kann. Damit wollen die Kurator*innen Regina Bittner, Katja Klaus und Philipp Sack auf neue Narrative aufmerksam machen.
Gerda Breuer: Ihr sprecht bei den Beispielen nicht mehr vom „Einfluss“ des Bauhauses und vom Bauhaus als „Zentrum“ mit Bewegung in die außereuropäische „Peripherie“, sondern von Verflechtungen. Nun ist euer Projekt so umfangreich und komplex und bringt so viele historische wie aktuelle Beispiele zur Sprache, dass ich mich frage, ob es eine gemeinsame Ausrichtung der neuen Ansätze gibt?
Regina Bittner: Der gemeinsame Ansatz lässt sich von Überlegungen der Dezentrierung leiten: Schon seit einiger Zeit greifen andere Modi der Geschichtsschreibungen Raum, die weniger an Linearität historischer Verläufe als vielmehr an Verknüpfungen, Verflechtungen, Konversationen oder Begegnungen interessiert sind. Für die Design- und Architekturgeschichte hat das viele Konsequenzen, so geht es unter anderem nicht mehr um eine Geschichtsschreibung, die bestimmte Autor*innen oder formale Kanons beziehungsweise Stile ins Zentrum rückt. Mit dem Fokus auf Schulen als Lernumgebungen und Institutionen bietet sich ja die besondere Chance, zu anderen Erzählungen zu kommen: Diese Schulen waren oft per se vernetzte Einrichtungen mit einer Vielzahl von Akteur*innen, eingebettet in unterschiedliche Kontexte. Von hier aus können auch andere Perspektiven auf die komplizierten Rezeptionen des Bauhaus als Schule entstehen. Und digitale Werkzeuge eignen sich für diesen Ansatz auf besondere Weise.
Katja Klaus: Mit dem digitalen Atlas „Schools of Departure“ haben wir uns von der Vorstellung eines linearen Narrativs verabschiedet und versuchen stattdessen, ein extrem breites Spektrum an untersuchten Fallbeispielen (chronologisch, institutionell, geographisch) abzubilden. Die Aufnahme der verschiedenen Ansätze in den Atlas erfolgt dabei ganz organisch: Zum Teil lassen wir uns hier vom Zufall leiten, zum Teil laden wir Autor*innen, Pädagog*innen und Forscher*innen aus unseren internationalen Netzwerken ein, die wir in den vergangenen Jahren durch unsere Programmarbeit kennengelernt haben. Wir stellen die Plattform als Werkzeug für Forschung und Lehre zur Verfügung und hoffen, dass sie zum Entdecken einlädt und auch zu einer non-linearen Nutzung führt.
Philipp Sack: Bei der inhaltlichen Struktur des Atlasses haben wir auf der Grundlage der ersten Recherchen einige gemeinsame Themen identifiziert, die über verschiedene Zeiträume und Regionen hinweg die Geschichte bestimmter Schulen maßgeblich beeinflussen. Diese „Travelling Concepts“ genannten, gemeinsamen Problemstellungen werden je nach Ort und Zeit unterschiedlich interpretiert und ausgehandelt, liefern unserer Meinung aber gerade dadurch einen Weg, den Zugang zum Gesamtkonvolut der Schulen zu strukturieren. Wir beschäftigen uns mit der Geschichte radikaler Designpädagogiken beispielsweise unter dem Gesichtspunkt der Dekolonisierung, dem Aspekt von Wissenschaft und Technologie, oder mit Blick auf das Verhältnis zwischen Schulexperimenten und Vorstellungen vom Gemeinwesen. Aufgrund dieses dezidiert offenen Ansatzes ist der Atlas von vornherein immer unabgeschlossen; auch die Travelling Concepts werden beständig angepasst, ergänzt, erweitert.
Gerda Breuer: Das erste kleine Buch mit dem Titel „Decolonising Design Education“ ist in Kooperation mit dem indonesischen Bildungskollektiv Gudskul herausgegeben worden. Bei den Projekten zu Decolonising geht es aber doch gerade darum, dass sich die ehemals kolonisierten Länder von der westlichen Hegemonie befreien wollen. Das historische Bauhaus ist aber eine der größten Repräsentantinnen der westlichen Gestaltung. Ist das nicht ein Widerspruch?
Regina Bittner: Durchaus. Im Projekt geht es uns genau darum, diesen Widerspruch sichtbar zu machen. Einerseits haben wir aus den Forschungen zur transkulturellen Moderne gelernt, dass es Alternativen zu westlichen Erzählungen gibt und das Reden über die Resonanzen des Bauhauses, entlassen aus dem Korsett dieser Historiografie, eben auch zu kultureller Ermächtigung in Form von Abstandsnahme, Kritik oder Fortschreibung beitragen kann. In vielen Beispielen, die im Atlas vorgestellt werden, lässt sich dies nachvollziehen. Aber andererseits ist die historisch geformte Autorität des Bauhauses und der Institutionen, die diese Erbe vermitteln, ein Faktum, mit dem auch wir uns auseinandersetzen müssen.
Katja Klaus und Philipp Sack: Wir versuchen, die Verhältnisse und Verstrickungen, in denen wir als Erben und Verwalter des Bauhauses heute agieren, anzuerkennen und offenzulegen, um neue Wege zu erschließen, an diesen Verhältnissen zu arbeiten. Wir müssen uns konsequent eingestehen, dass Kooperationen zwischen der Stiftung Bauhaus Dessau und anderen Institutionen oder Akteur*innen oftmals auf einer schiefen Ebene stattfinden, einhergehend mit einem (aufmerksamkeits-)ökonomischen Gefälle. Dieses Gefälle wollen wir uns in der Zusammenarbeit zugunsten aller Beteiligten zunutze machen; die zweifelsohne privilegierte Position des Bauhauses soll damit wieder anschlussfähig gemacht werden für emanzipatorische Projekte. Statt Themen und Zugänge einfach zu setzen, verstehen wir unsere Rolle eher als ‚facilitators‘ – wir stellen Infrastrukturen zur Verfügung und treten darüber mit unseren Partner*innen in Dialog. Zugleich lernen wir, zuzuhören, Gegebenes (das Erbe des historischen Bauhauses, unsere Sprache, et cetera) zu hinterfragen. Lernen für uns besteht damit häufig im Verlernen von tradiertem Wissen.
Gerda Breuer: Viele neuere Ansätze des Lernens gehen vom Aktivismus aus. Sie lehnen das akademische Lehren und die Schulen, das heißt auch Gestaltungsschulen, grundsätzlich ab. Die brasilianische Designerin, Forscherin und Kuratorin Nina Paim beschreibt das beispielsweise sehr eindrücklich aufgrund ihrer Erfahrung als Wanderin zwischen europäischen Welten. Wie sieht es aus mit Konzepten, die aus ganz anderen Zusammenhängen entstanden sind?
Katja Klaus: Genau diese Konzepte interessieren uns: poetische, radikale, nicht-akademische. Der Atlas beinhaltet neben historischen Fallstudien auch zahlreiche Auseinandersetzungen mit jüngeren Initiativen aus dem Bereich der alternativen ‚design education‘. In der aktuellen, dritten Ausgabe unseres Journals stellen wir experimentelle Lerngemeinschaften vor. Das Beispiel der School of the Alternative (SotA), einer freien Kunstschule auf dem Campus des historischen Black Mountain Colleges, führt uns vor Augen, wie sich an diesem Ort ein neues institutionelles Gefüge, ein Aktionsraum und ein Archiv für extreme, kurzlebige Experimente entwickeln kann. Auch hier sind die Initiator*innen auf der Suche nach einer neuen Art zu denken, zu sprechen und zu handeln, losgelöst von der historischen Vorgängerin. Als Vertreter*innen einer etablierten Kultureinrichtung sehen wir uns in der Verantwortung, dieser neuen institutionellen Vielfalt eine Plattform zur Verfügung zu stellen.
Gerda Breuer: Die E-Journale versammeln Beispiele, die methodische Verfahren wie die „Travelling Concepts“ und „Translation“ verfolgen: Lernexperimente, Ideen, Materialien, neue Narrative und Medien radikaler Pädagogik, die keinen universalen Geltungsanspruch behaupten, oft situativ entstehen und auch unkonventionelle Formate aus anderen Disziplinen integrieren wie Performances, literarische Beispiel oder auch nur Reports, Notizen. Ihre Produktion von Bedeutungen entsteht durch den Wechsel von Kontexten, auf die sie reagieren. Nach welchen Kriterien sucht ihr diese Beispiele aus?
Philipp Sack: Wir sind auf der Suche nach möglichst vielfältigen Fallbeispielen, Dokumenten, Audiospuren, Geschichten. Wir lesen, lassen uns beraten, stöbern in (Online-)Archiven und Ausstellungen. Bislang speist sich der Atlas weitgehend aus bestehenden Netzwerken der Akademie der Stiftung Bauhaus Dessau. Gemeinsam mit Kooperationspartner*innen und Programmbeteiligten formulieren wir mögliche Fragestellungen und identifizieren relevante Fallbeispiele. Damit trägt der Atlas auch maßgeblich dazu bei, die weltweiten Allianzen, die im Zuge des Bauhausjubiläums 2019 entstanden sind, zu konsolidieren und auszubauen. In den ersten beiden Ausgaben des E-Journals haben wir durch die Zusammenarbeit mit den Co-Herausgeber*innen Catherine Nichols sowie farid rakun und JJ Adibrata von Gudskul wertvollen Input erhalten. Denkbar wäre es, für die kommenden Ausgaben einen Call for Papers auszuschreiben, um die Bandbreite an Fallbeispielen auch über unseren institutionellen Horizont heraus zu erweitern und so eine Grundlage für weitere Bündnisse zu schaffen.
Gerda Breuer: Ihr habt erwähnt, dass der digitale Atlas „Schools of Departure“ auch über einen partizipativen Bereich verfügt, der heute von vielen Personen, auch Universitäten, genutzt wird. Könnt Ihr etwas darüber berichten?
Katja Klaus: Neben den anderen Features – dem Index der Schulexperimente, dem E-Journal – können User*innen im sogenannten Notes-Bereich selbst aktiv werden. Hier können Studierende, Lehrkräfte, Forscher*innen und Praktiker*innen Vorschläge für künftige Beiträge zu Schulen oder Themen einreichen oder kurze Beiträge zu bestimmten Artefakten hinterlassen, die dann zu einer vollständigen Fallstudie oder einem Aufsatz ausgebaut werden können. Wir sammeln absichtlich unfertige Notizen und geben Ideen und Fragen den Vorzug gegenüber endgültigen Antworten. Darüber hinaus nutzen wir diesen Ort auch als digitalen Treffpunkt, um uns im Rahmen der Bauhaus Open Studios mit internationalen Hochschulen zu gemeinsamen Online-Lehrveranstaltungen zu verabreden.
Philipp Sack: Ein Beispiel hierfür ist die seit mehreren Jahren bestehende Zusammenarbeit mit dem College of Human Ecology der Cornell University: Im Rahmen des dort angebotenen Programms in Human-Centered Design haben wir online eine Reihe von Formaten durchgeführt, in denen Studierende mit Schwerpunkt Mode und Textilgestaltung zu einem ganzheitlichen Umgang mit den Objekten aus der Lehrsammlung der Fakultät ermutigt wurden. Auch diese Form der Kooperation soll künftig weiter ausgebaut werden.