DESIGN DISKURS
Die gegenwärtige Designlehre sei unzureichend, um die Anforderungen der Zukunft zu bewältigen – so das Resümee der 250 internationalen Experten und Expertinnen, die die iF Design Foundation in einer Studie befragt und in Workshops zusammengebracht hat. Die daraus abgeleiteten Fragestellungen und Thesen diskutiert Mitverfasser Prof. Dr. René Spitz pointiert im DDC Design Diskurs.
1. Ein märchenhaftes Szenario
Verehrte Leserin, verehrte Leser: Angenommen, in diesem Moment klingelte es an Ihrer Bürotür und ein Mensch übergäbe Ihnen einen Blankoscheck. Damit wäre nur eine einzige Bedingung verknüpft. Sie müssten das Geld in den Aufbau einer neuen Designhochschule investieren. Was tun Sie?
Zurück in die Wirklichkeit. Vor knapp sechs Jahren wurde in der heutigen iF Design Foundation die Frage diskutiert, inwiefern die gegenwärtige Designlehre dafür hilfreich ist, um junge Menschen auf ihre berufliche Praxis vorzubereiten. Dahinter standen drei Fragen: Was geschieht heute in der Designlehre? Was wird in der Praxis gebraucht? Und wie sieht die Zukunft aus?
Um eine möglichst fundierte Antwort zu geben, wurde eine Studie in Auftrag gegeben. Ihr lag das Szenario zugrunde, eine neue Designhochschule zu gründen, die keinerlei Rücksicht auf gewachsene Strukturen oder ideologische Traditionen nehmen müsste. Eine Institution, die sich radikal der Gestaltung der Zukunft widmen sollte. Ihre Organisation, Themen und Methoden sollten die konkreten Antworten auf die eingangs gestellten Fragen nach den gegenwärtigen Qualitäten der Designlehre und den künftigen Anforderungen der designerischen Praxis darstellen.
Für diese Studie wurden Interviews mit 250 Experten und Expertinnen in 11 Ländern (Asien, Europa, USA) durchgeführt. Das Ergebnis war ernüchternd und erschütternd. In drei Sätzen:
- Die gegenwärtige Designlehre genügt nicht, um die Anforderungen zu bewältigen, die sich aus der dynamischen Veränderung von Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft ergeben.
- Aktuell ist keine Organisation sichtbar ist, die sich dieser dringend erforderlichen, grundlegenden Aktualisierung der Designlehre annimmt. Es ist keine Initiative bekannt, die einen radikalen Neuanfang wagt.
- Das Erschütternde: Alle Befragten waren sich darin einig.
2. Das Ende des Designs
Design ist ein Phänomen, das die Moderne als integraler Bestandteil seit der Mitte des 19. Jahrhunderts prägt. Wie die Moderne, so hat auch das Design mehrere Phasen durchlaufen:
- Anfangs standen Entwürfe für isolierte Aufgaben (vor allem Gegenstände, Botschaften), die unter den neuen Bedingungen der arbeitsteiligen, industriellen Massenproduktion von Spezialisten und Spezialistinnen gestaltet wurden, im Vordergrund.
- Daraus ergaben sich Arbeitsfelder, bei denen die solitäre Lösung in den Hintergrund trat und die Erzeugung effizienter, bedeutungsvoller Zusammenhänge (Systeme mit variablen Elementen) wichtig wurde.
- In einer dritten Phase wurde auf die Gestaltung von Abläufen fokussiert.
- Als jüngstes und gegenwärtig dominierendes Thema gilt die Gestaltung von Erlebnissen und Erfahrungen.
Die Unschärfe des Begriffs Design speist sich aus der Tatsache, dass damit heute all dies gleichzeitig benannt werden kann. Für das Design ist die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ ebenso charakteristisch wie für die Moderne insgesamt.
Es ist offensichtlich, dass die Berufspraxis des Designs, die im 20. Jahrhundert eine beispiellose Erfolgsgeschichte gewesen ist, gegenwärtig ein jähes Ende gefunden hat.
„Es ist offensichtlich, dass die Berufspraxis des Designs, die im 20. Jahrhundert eine beispiellose Erfolgsgeschichte gewesen ist, gegenwärtig ein jähes Ende gefunden hat.“
Wer im Design arbeiten will, muss dafür nicht Design studiert haben. Es ist heute einfacher als jemals zuvor, sich Fachkenntnisse über sämtliche Details der Berufspraxis autodidaktisch anzueignen. Jede Frage, die das handwerkliche Ausführen und die serielle Vervielfältigung beziehungsweise Veröffentlichung eines Entwurfs betrifft, wird minutiös in Filmen behandelt. Die internationalen Video-Plattformen wie YouTube oder Vimeo liefern unzählige Antworten für Typografie, Bildbearbeitung, Layout, Anwendungsforschung (User Experience), Programmierung oder die Produktion. Auf den ersten Blick drängt sich der Eindruck auf, sämtliches Designwissen könnte nun in dieser Form digitalisiert vorliegen, und sei das Thema auch noch so spezialisiert.
Das gilt insbesondere für Wissen, das noch vor wenigen Jahren ausschließlich Experten und Epertinnen zur Verfügung stand: Wissen, das sich aus langer und mühsamer Praxis durch das Beobachten, Ausprobieren, Üben und Besprechen im Umfeld ergeben hat. Diese gesammelten Erfahrungen stehen nun allen Menschen allzeit zur freien Verfügung – einen Internetanschluss und Sprachkenntnisse vorausgesetzt. Es ist allerdings absehbar, dass automatisierte Übersetzungen auch die Sprachhürde beseitigen werden.
Dieses Expertenwissen bot noch bis vor Kurzem eine gesicherte Grundlage für ein langfristiges berufliches Auskommen. Die Gratiskultur des Internet hat diese Phase beendet. Tätigkeiten, die noch vor wenigen Jahren selbstverständlich bezahlt werden mussten, sind heute kostenlos. Der Bedarf daran besteht zwar weiterhin, aber um ihn zu befriedigen, müssen keine ausgebildeten oder studierten Experten und Expertinnen mehr bezahlt werden.
Beispielhaft lässt sich diese Entwicklung am Markt für das Erzeugen und Bearbeiten von Bildern nachvollziehen. Geräte fürs Fotografieren und Filmen sind heute weiter verbreitet denn je. Gleichzeitig ist ihre Bedienung einfacher geworden, während zusätzlich die technische Qualität gestiegen ist. Zwischen Aufnahme und nachträglicher Bearbeitung liegen nur noch wenige Klicks und Sekunden. Kostenlose Texte und Filme leiten das Aufnehmen und nachträgliche Editieren Schritt für Schritt an. Wer darüber hinaus Ansprüche an das Ergebnis stellt, erwirbt für wenige Euro Programme, Apps, Tutorials und Abos. Damit lassen sich innerhalb kürzester Zeit Resultate erzielen, die meist als professionell wahrgenommen werden und die ihren Zweck in vielen professionellen Kontexten erfüllen. Eventuelle handwerkliche Fehler beim Anlegen von Dateien werden durch automatische Korrekturen behoben, noch bevor dadurch in der Produktion Schaden entsteht.
Einer gesamten Branche, die nicht nur aus Fotografen und Fotografinnen, Retuscheuren und Retuscheurinnen, Kameraleuten und Cuttern und Cutterinnen, sondern auch vielen weiteren, hochspezialisierten Berufen bestand, ist die Erwerbsgrundlage abhandengekommen. Alle Tätigkeiten, die sich aus manuellen Bewegungen zusammensetzen, wurden digitalisiert und dadurch monetär entwertet. Geblieben sind wenige mentale Tätigkeiten, die als schöpferisch, konzeptionell und kontext-übergreifend beschrieben werden können: das Ausdenken neuer Bilder, der Transfer von einem semantischen Bereich in einen anderen, die integrierende Planung von Bedeutungszusammenhängen. Erfahrene Designer*innen können für diese Leistungen noch so bezahlt werden, dass sie davon ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Doch auch diese Nische schrumpft. Denn die Homogenisierung der Sehgewohnheiten beschränkt das Spektrum der Bilder, die vom Publikum erwartet werden. Diese eingeschränkte Vorauswahl der Möglichkeiten lässt sich durch sogenannte Künstliche Intelligenz beziehungsweise maschinelles Lernen programmieren. Am Ende bleibt dann noch die Entscheidung über geschmackliche Nuancen, die Urteilskraft als kantische Kernkompetenz im Design.
An der Unterminierung gewachsener Geschäftsmodelle durch die Digitalisierung und die Gratiskultur des Internet ändert auch die Tatsache nichts, dass der Markt für kostenpflichtige Online-Informationen wächst. Es werden immer mehr Kurse angeboten, die aus einer Mischung aus Lehrfilmen, Texten und Feedback-Angeboten zusammengesetzt sind. Dabei handelt es sich um die technisch aktualisierte Form des herkömmlichen Fernstudiums. Typischerweise greift es nur solche Ausschnitte eines gesamten Studiums oder einer mehrjährigen Ausbildung heraus, die momentan erhöhte Nachfrage erfahren.
Es erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt unwahrscheinlich, dass das Rad auf den Status quo ante zurückgedreht werden könnte: Professionelles Know-how wird im Design nicht mehr einem kleinen Kreis vorbehalten bleiben. Professionelles Designwissen ist zum Allgemeingut geworden.
„Professionelles Know-how wird im Design nicht mehr einem kleinen Kreis vorbehalten bleiben.“
Zwischen der Verfügbarkeit des Wissens und seiner Anwendbarkeit klafft eine Lücke. Sie wird durch Erfahrung überbrückt. Experten und Expertinnen wissen, an welcher Stelle sich der Prozess gerade befindet und welches Spezialwissen in dieser Situation angewendet werden muss. Sie kennen die nächsten Schritte und können die Risiken einschätzen, die damit verbunden sind. Sie können deshalb die Qualität des verfügbaren Wissens im Hinblick auf seine Anwendbarkeit bewerten.
Dieses Prozesswissen um die großen Zusammenhänge ist derzeit noch nicht substituierbar. Denn der große Vorteil eines Online-Tutorials besteht in seiner Konzentration auf das Detail. Einzelheiten lassen sich nur dadurch unter die Lupe nehmen, dass sie aus ihrem Kontext herausgelöst werden.
Erfolgreiche Designer und Designerinnen integrieren beide Ebenen, sie fügen die Puzzleteile zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammen. Wer im Design professionell arbeiten will, muss diese beiden Maßstäbe beherrschen. Das lässt sich an drei Institutionen lernen: Direkt in der Praxis eines Designbüros, in einer geregelten Berufsausbildung (ISCED-Stufe 4) und im akademischen Studium.
3. Die Zukunft der Designlehre
Von dieser Diagnose und von den Erkenntnissen aus der ersten Studienphase ausgehend, hat die iF Design Foundation 2019 und 2020 vier mehrtägige Veranstaltungen mit Workshop-Charakter (sogenannte Hearing) in Afrika, Asien, Europa und den USA durchgeführt. Daraus ergibt sich ein differenziertes Gesamtbild, wie die Beteiligten die Zukunft der Designpraxis sehen und welche Anforderungen sich für die Lehre ergeben.
Über alle Differenzen hinweg sind 18 Gemeinsamkeiten deutlich geworden, beispielsweise:
- Als Kern der Designpraxis wird die Fähigkeit definiert, Kontexte und Details wahrnehmen sowie Ideen imaginieren, veranschaulichen und konkretisieren zu können (Visionierung, Visualisierung, Modellierung, Prototypisierung). Es handelt sich um eine Mischung aus intellektuellen und manuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich wechselseitig bedingen.
- Zugleich wird die Fähigkeit zur Kommunikation in internationalen, interkulturellen, interdisziplinären und hierarchieübergreifenden Konstellationen als unabdingbar benannt.
- Unverzichtbar ist auch die persönliche Fähigkeit zum empathiegeleiteten Verständnis, kritischen Hinterfragen und Querdenken komplexer Sachverhalte. Dadurch entsteht eine Verbindung aus Denken und Machen in einem Regelkreislauf.
- Design ist eine humane und politisch wirksame Praxis. Um der Verantwortung gerecht zu werden, erfordert die Ausübung der Designpraxis einen Rahmen ethisch-moralischer Werte, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind.
- Umfassende und kenntnisreiche Sensibilität gegenüber kulturellen Zusammenhängen und Traditionen ist eine weitere Grundlage der Designpraxis.
- Weil Design auf die Bewältigung zukünftiger Aufgaben ausgerichtet ist, setzt die Praxis einen konstruktiven Umgang mit Ungewissheit voraus. Die Komplexität der Aufgaben verbietet es, einfache Antworten als Lösungen zu verstehen. Resultate markieren nur Etappen eines fortlaufenden Wegs der Veränderung, Anpassung und Weiterentwicklung. Deren eventuelle Folgen müssen vorausschauend in den Blick genommen werden.
- Design ist eine postheroische Praxis, die nicht von einzelnen Genies dominiert wird, sondern aus der Kooperation in vielfältig gemischten Teams besteht.
- Die Praxis des Designs enthält Anteile von Generalistentum und Spezialistentum. Sie ist geprägt durch die Verknüpfung beziehungsweise Wechselwirkung aus wissenschaftlichem Analysieren, methodischem Experimentieren, intuitivem Entwerfen, praktischem Realisieren und distanziertem Reflektieren.
„Weil Design auf die Bewältigung zukünftiger Aufgaben ausgerichtet ist, setzt die Praxis einen konstruktiven Umgang mit Ungewissheit voraus.“
Zugleich sind einige Unterschiede hervorgetreten, die die gemeinsamen Überzeugungen singulär einfärben:
- Beim europäischen Hearing sind Vorbehalte gegenüber der Digitalisierung deutlich geworden, die sich explizit gegen die Geschwindigkeit, Dynamik und Wirkungskraft dieser substanziellen Transformation richten.
- Beim nordamerikanischen Hearing wurde intensiver über Fragen der Finanzierung, Zugänglichkeit und Organisation von Designhochschulen debattiert.
- Beim asiatischen Hearing galt besondere Aufmerksamkeit dem spezifischen Verhältnis zwischen Moderne (repräsentiert durch Design) und dem kulturellen Erbe (am Beispiel der Kōgei-Praxis). Beides sind ganzheitliche Konzepte, die ihrer Idee nach höchste Ansprüche an politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und umweltbezogene Konsequenzen stellen. Design und Kōgei konkurrieren miteinander, sodass vielfach Konflikte entstehen, die bisher ungelöst sind.
- Beim afrikanischen Hearing wurde zum Ausdruck gebracht, dass Design in großen Teilen der Welt als ein elitäres Konzept der westlichen Industriegesellschaften wahrgenommen wird, dessen Einfluss auf der Macht der Kolonialisierung beruht. Die Emanzipation von dieser Dominanz geht von der Relativierung der westlichen Konzentration auf das Individuum aus und räumt der Gemeinschaft einen höheren Wert ein. Das Ziel lautet, ein originäres System zu etablieren, das traditionelle lokale Kontexte nutzt und auf lokale und regionale Märkte fokussiert. Dies erfordert die Formulierung einer eigenen Sprache für eigenständige Konzepte und Phänomene sowie die Entwicklung einer indigenen Designpraxis und eines autonomen Diskurses.
Das Fazit: Die bessere Lösung entsteht nicht durch Perfektion in Isolation, sondern durch Austausch in Reflexion. Diesen Austausch regt der vorliegende Beitrag hoffentlich an, damit die Designlehre ab sofort auf die Gestaltung der Zukunft ausgerichtet wird.