DESIGN DISKURS
„Design für Alle“ wird zur Pflicht: Diesen Sommer tritt der „European Accessibility Act“ in Kraft, der in Deutschland durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz umgesetzt wird. Gestaltende aller Disziplinen sind aufgerufen, ihre Methoden und Praktiken kritisch zu hinterfragen. Im Gespräch mit Lisette Reuter von Un-Label, Expertin für Inklusion im Bereich Kunst und Kultur, begeben wir uns auf Spurensuche.
Felix Bosse: Lisette, du leitest seit über zehn Jahren den gemeinnützigen Verein Un-Label. Was macht ihr da genau?
Lisette Reuter: Un-Label ist ein international agierendes Sozialunternehmen im Bereich Kunst, Kultur und Inklusion. Zum einen produzieren wir selbst Kultur, wie mixed-abled Tanz- und Theaterstücke, haben professionelle Musikensembles aufgebaut und bieten Künstlerresidenzen, Master Classes und Trainings für Kulturschaffende mit und ohne Behinderung an. Das ist aber nur eine Säule von Un-Label. Denn wir beraten auch bundes- und europaweit andere Kulturakteure und Kulturorganisationen auf ihrem Lernweg hin zu mehr Inklusion, Barrierefreiheit und Vielfalt. Und die dritte wichtige Säule von Un-Label ist, dass wir mit politischen Stakeholdern und Kulturpolitik zusammenarbeiten, um die Fördersysteme und Rahmenbedingungen, unter denen Kultur produziert wird, zu verändern. Denn es müssen einfach viel mehr Kulturakteure befähigt werden, inklusiver und barrierefreier zu agieren, wofür Veränderungen in den Fördersystematiken Grundlage ist. Wir setzen also den Hebel von verschiedenen Seiten an, um den Kultursektor nachhaltig zu transformieren.

Felix Bosse: Könntest du den Begriff Inklusion nochmal definieren? Was verstehst du darunter genau?
Lisette Reuter: Inklusion ist ja das Gegenteil von Integration, also dass man Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen in die Gesellschaft integriert und die Menschen sich den gesellschaftlichen Systemen anpassen. Inklusion sagt, dass wir die Systeme den Menschen, also den Bedarfen der Menschen, anpassen müssen. Das heißt, dass jeder Mensch in der Lage sein sollte, gleichwertig und gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Ebenen teilzuhaben und teilzugeben. Inklusion wird häufig im Kontext von Menschen mit Behinderung verstanden, doch letztendlich muss der Begriff weiter gefasst werden. Er bezieht sich auf alle Dimensionen von Diversität – also nicht nur auf Menschen mit Behinderung, sondern auch auf andere marginalisierte und diskriminierte Gruppen.
Felix Bosse: Werden wir konkreter: Was braucht es, damit ein Projekt von Anfang an inklusiv gemacht und gedacht wird?
Lisette Reuter: Um ein Projekt wirklich inklusiv zu gestalten, zu durchdenken und umzusetzen, braucht es die Begegnung mit Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen. Es braucht eine ehrliche Auseinandersetzung und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel – damit Menschen ohne Behinderung überhaupt nachvollziehen können, welche Barrieren Menschen mit Behinderung im Alltag erleben. Gerade im Designbereich ist der Austausch essenziell. Nur wenn wir voneinander lernen, kann echte Inklusion gelingen.
„Eine Gesellschaft, die inklusiv denkt und handelt, ist eine stärkere und gerechtere demokratische Gemeinschaft.“
Lisette Reuter 1
Felix Bosse: Bei meiner Recherche bin ich immer wieder über das Zitat „Nicht über uns ohne uns“ 2 gestoßen. Wie kann ich mir das ganz praktisch als Format oder Methode vorstellen?
Lisette Reuter: Es geht darum, gemeinsam und auf Augenhöhe Lösungen zu entwickeln. Dafür braucht es echten Dialog – keine theoretischen Debatten. Die Stimmen und Perspektiven aller Beteiligten müssen gehört und die unterschiedlichen Bedarfe ernst genommen werden. Denn noch immer wird viel zu häufig über statt mit Menschen gesprochen und für statt gemeinsam gestaltet.

Felix Bosse: Die Rolle des Gestaltenden verschiebt sich damit vom Machenden zum Moderierenden. Könnte man sagen, wir müssen aufhören, für Zielgruppen zu gestalten, sondern alle Menschen ermächtigen, selbst zu gestalten?
Lisette Reuter: Auf jeden Fall, das ist sehr schön gesagt. Genau um dieses Empowerment geht es, Menschen wirklich eine Stimme zu geben, Menschen Gehör zu verschaffen, Menschen ernst zu nehmen – mit all ihren Bedarfen. Dadurch kommt man automatisch in eine gestaltende Rolle. Natürlich sind die Designer*innen dann diejenigen, die für die Ausführung verantwortlich sind, aber sie führen „für“ aus. Diese Umkehrung ist ein ganz zentraler Punkt.
„Nur wenn wir voneinander lernen, kann echte Inklusion gelingen.“
Lisette Reuter
Felix Bosse: Wie könnte ein erster Schritt aussehen, Inklusion nachhaltig in Designprozesse und die Designlehre zu integrieren? Lisette Reuter: Gerade in der Lehre ist es meines Erachtens besonders wichtig, Menschen mit Behinderung aktiv einzubeziehen. Sie sind die eigentlichen Expert*innen ihrer Lebensrealität und genau davon können Design-Studierende enorm profitieren. Wir müssen wegkommen vom Konzept der Personas 3, welche Stereotype verstärken und der Vielfalt und Komplexität unserer Gesellschaft einfach nicht gerecht werden und oftmals klischeehafte Vorstellungen weiter reproduzieren. Was wir immer wieder feststellen: Der Weg ist selten geradlinig. Man muss viele Schleifen drehen, Dinge ausprobieren und dabei feststellen, dass manche Ansätze nicht funktionieren. Dann heißt es: neu denken, eine andere Richtung einschlagen. Es ist ein kontinuierlicher Lernprozess, eine fortlaufende Weiterentwicklung – wie beim klassischen Scrum-Verfahren 4. Dafür braucht es Raum, Zeit und finanzielle Ressourcen.
Felix Bosse: Du sprichst da einen interessanten Punkt an. Wenn die Komplexität in einem Projekt zunimmt, braucht es agilere Arbeitsweisen. Ich bin überzeugt, dass viele Gestalter*innen bereit sind, sich auf diesen offenen Gestaltungsprozess einzulassen. Die Frage ist nur: Wie fange ich an?
Lisette Reuter: Kommt in der Realität an, lasst eure Persona zu Hause und redet mit den Menschen, fragt, was sie brauchen und fangt dann an zu gestalten.
Felix Bosse: Liebe Lisette, ich danke dir für deine Zeit.