Kreativlabor von Un-Label im Jahr 2016 in Istanbul, Bild © Costas Lamproulis

DESIGN DISKURS

„De­sign für Al­le“ wird zur Pflicht: Die­sen Som­mer tritt der „Eu­ropean Acces­si­bi­li­ty Ac­t“ in Kraft, der in Deutsch­land durch das Bar­rie­re­frei­heits­stär­kungs­ge­setz um­ge­setzt wird. Ge­stal­ten­de al­ler Dis­zi­pli­nen sind auf­ge­ru­fen, ih­re Me­tho­den und Prak­ti­ken kri­tisch zu hin­ter­fra­gen. Im Gespräch mit Li­set­te Reu­ter von Un-La­bel, Ex­per­tin für In­klu­si­on im Be­reich Kunst und Kul­tur, be­ge­ben wir uns auf Spu­ren­su­che.

Veröffentlicht am 01.06.2025

Fe­lix Bos­se: Li­set­te, du lei­test seit über zehn Jah­ren den ge­mein­nüt­zi­gen Ver­ein Un-La­bel. Was macht ihr da ge­nau?

Li­set­te Reu­ter: Un-La­bel ist ein in­ter­na­tio­nal agie­ren­des So­zi­al­un­ter­neh­men im Be­reich Kunst, Kul­tur und In­klu­si­on. Zum ei­nen pro­du­zie­ren wir selbst Kul­tur, wie mi­xed-ab­led Tanz- und Thea­ter­stü­cke, ha­ben pro­fes­sio­nel­le Mu­si­k­en­sem­bles auf­ge­baut und bie­ten Künst­ler­re­si­den­zen, Mas­ter Clas­ses und Trai­nings für Kul­tur­schaf­fen­de mit und oh­ne Be­hin­de­rung an. Das ist aber nur ei­ne Säu­le von Un-La­bel. Denn wir be­ra­ten auch bun­des- und eu­ro­pa­weit an­de­re Kul­tu­rak­teu­re und Kul­tur­or­ga­ni­sa­tio­nen auf ih­rem Lern­weg hin zu mehr In­klu­si­on, Bar­rie­re­frei­heit und Viel­falt. Und die drit­te wich­ti­ge Säu­le von Un-La­bel ist, dass wir mit po­li­ti­schen Sta­ke­hol­dern und Kul­tur­po­li­tik zu­sam­men­ar­bei­ten, um die För­der­sys­te­me und Rah­men­be­din­gun­gen, un­ter de­nen Kul­tur pro­du­ziert wird, zu ver­än­dern. Denn es müs­sen ein­fach viel mehr Kul­tu­rak­teu­re be­fä­higt wer­den, in­klu­si­ver und bar­rie­re­frei­er zu agie­ren, wo­für Ver­än­de­run­gen in den För­der­sys­te­ma­ti­ken Grund­la­ge ist. Wir set­zen al­so den He­bel von ver­schie­de­nen Sei­ten an, um den Kul­tur­sek­tor nach­hal­tig zu trans­for­mie­ren.

Lisette Reuter (Mitte) Kreativworkshop von Un-Label im Jahr 2024, Bild © Annette Etges

Fe­lix Bos­se: Könn­test du den Be­griff In­klu­si­on noch­mal de­fi­nie­ren? Was ver­stehst du dar­un­ter ge­nau?

Li­set­te Reu­ter: In­klu­si­on ist ja das Ge­gen­teil von In­te­gra­ti­on, al­so dass man Men­schen mit un­ter­schied­li­chen Be­dar­fen in die Ge­sell­schaft in­te­griert und die Men­schen sich den ge­sell­schaft­li­chen Sys­te­men an­pas­sen. In­klu­si­on sagt, dass wir die Sys­te­me den Men­schen, al­so den Be­dar­fen der Men­schen, an­pas­sen müs­sen. Das hei­ßt, dass je­der Mensch in der La­ge sein soll­te, gleich­wer­tig und gleich­be­rech­tigt an al­len ge­sell­schaft­li­chen Ebe­nen teil­zu­ha­ben und teil­zu­ge­ben. In­klu­si­on wird häu­fig im Kon­text von Men­schen mit Be­hin­de­rung ver­stan­den, doch letzt­end­lich muss der Be­griff wei­ter ge­fasst wer­den. Er be­zieht sich auf al­le Di­men­sio­nen von Di­ver­si­tät – al­so nicht nur auf Men­schen mit Be­hin­de­rung, son­dern auch auf an­de­re mar­gi­na­li­sier­te und dis­kri­mi­nier­te Grup­pen.

Fe­lix Bos­se: Wer­den wir kon­kre­ter: Was braucht es, da­mit ein Pro­jekt von An­fang an in­klu­siv ge­macht und ge­dacht wird?

Li­set­te Reu­ter: Um ein Pro­jekt wirk­lich in­klu­siv zu ge­stal­ten, zu durch­den­ken und um­zu­set­zen, braucht es die Be­geg­nung mit Men­schen mit un­ter­schied­li­chen Be­dar­fen. Es braucht ei­ne ehr­li­che Aus­ein­an­der­set­zung und die Be­reit­schaft zum Per­spek­tiv­wech­sel – da­mit Men­schen oh­ne Be­hin­de­rung über­haupt nach­voll­zie­hen kön­nen, wel­che Bar­rie­ren Men­schen mit Be­hin­de­rung im All­tag er­le­ben. Ge­ra­de im De­si­gn­be­reich ist der Aus­tausch es­sen­zi­ell. Nur wenn wir von­ein­an­der ler­nen, kann ech­te In­klu­si­on ge­lin­gen.

„Eine Gesellschaft, die inklusiv denkt und handelt, ist eine stärkere und gerechtere demokratische Gemeinschaft.“

Lisette Reuter 1

Fe­lix Bos­se: Bei mei­ner Re­cher­che bin ich im­mer wie­der über das Zi­tat „Nicht über uns oh­ne un­s“ 2 ge­sto­ßen. Wie kann ich mir das ganz prak­tisch als For­mat oder Me­tho­de vor­stel­len?

Li­set­te Reu­ter: Es geht dar­um, ge­mein­sam und auf Au­gen­hö­he Lö­sun­gen zu ent­wi­ckeln. Da­für braucht es ech­ten Dia­log – kei­ne theo­re­ti­schen De­bat­ten. Die Stim­men und Per­spek­ti­ven al­ler Be­tei­lig­ten müs­sen ge­hört und die un­ter­schied­li­chen Be­dar­fe ernst ge­nom­men wer­den. Denn noch im­mer wird viel zu häu­fig über statt mit Men­schen ge­spro­chen und für statt ge­mein­sam ge­stal­tet.

Martin Widyanata (†) vom Elektro-Pop Duo Unfall!, Bild © Un-Label

Felix Bosse: Die Rolle des Gestaltenden verschiebt sich damit vom Machenden zum Moderierenden. Könnte man sagen, wir müssen aufhören, für Zielgruppen zu gestalten, sondern alle Menschen ermächtigen, selbst zu gestalten?

Lisette Reuter: Auf jeden Fall, das ist sehr schön gesagt. Genau um dieses Empowerment geht es, Menschen wirklich eine Stimme zu geben, Menschen Gehör zu verschaffen, Menschen ernst zu nehmen – mit all ihren Bedarfen. Dadurch kommt man automatisch in eine gestaltende Rolle. Natürlich sind die Designer*innen dann diejenigen, die für die Ausführung verantwortlich sind, aber sie führen „für“ aus. Diese Umkehrung ist ein ganz zentraler Punkt.

„Nur wenn wir voneinander lernen, kann echte Inklusion gelingen.“

Lisette Reuter

Fe­lix Bos­se: Wie könn­te ein ers­ter Schritt aus­se­hen, In­klu­si­on nach­hal­tig in De­sign­pro­zes­se und die De­si­gn­leh­re zu in­te­grie­ren? Li­set­te Reu­ter: Ge­ra­de in der Leh­re ist es mei­nes Er­ach­tens be­son­ders wich­tig, Men­schen mit Be­hin­de­rung ak­tiv ein­zu­be­zie­hen. Sie sind die ei­gent­li­chen Ex­pert*in­nen ih­rer Le­bens­rea­li­tät und ge­nau da­von kön­nen De­sign-Stu­die­ren­de enorm pro­fi­tie­ren. Wir müs­sen weg­kom­men vom Kon­zept der Per­so­nas 3, wel­che Ste­reo­ty­pe ver­stär­ken und der Viel­falt und Kom­ple­xi­tät un­se­rer Ge­sell­schaft ein­fach nicht ge­recht wer­den und oft­mals kli­schee­haf­te Vor­stel­lun­gen wei­ter re­pro­du­zie­ren. Was wir im­mer wie­der fest­stel­len: Der Weg ist sel­ten ge­rad­li­nig. Man muss vie­le Schlei­fen dre­hen, Din­ge aus­pro­bie­ren und da­bei fest­stel­len, dass man­che An­sät­ze nicht funk­tio­nie­ren. Dann hei­ßt es: neu den­ken, ei­ne an­de­re Rich­tung ein­schla­gen. Es ist ein kon­ti­nu­ier­li­cher Lern­pro­zess, ei­ne fort­lau­fen­de Wei­ter­ent­wick­lung – wie beim klas­si­schen Scrum-Ver­fah­ren 4. Da­für braucht es Raum, Zeit und fi­nan­zi­el­le Res­sour­cen.

Fe­lix Bos­se: Du sprichst da ei­nen in­ter­es­san­ten Punkt an. Wenn die Kom­ple­xi­tät in ei­nem Pro­jekt zu­nimmt, braucht es agi­le­re Ar­beits­wei­sen. Ich bin über­zeugt, dass vie­le Ge­stal­ter*in­nen be­reit sind, sich auf die­sen of­fe­nen Ge­stal­tungs­pro­zess ein­zu­las­sen. Die Fra­ge ist nur: Wie fan­ge ich an?

Li­set­te Reu­ter: Kommt in der Rea­li­tät an, lasst eu­re Per­so­na zu Hau­se und re­det mit den Men­schen, fragt, was sie brau­chen und fangt dann an zu ge­stal­ten.

Fe­lix Bos­se: Lie­be Li­set­te, ich dan­ke dir für dei­ne Zeit.

Fe­lix Bos­se

Fe­lix Bos­se ist ein De­si­gner aus Köln, spe­zia­li­siert auf in­klu­si­ve Ge­stal­tung. Er stu­dier­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­de­sign an der HAW Ham­burg und Aus­stel­lungs­de­sign an der HSD Düs­sel­dorf. Mit sei­nem Stu­dio ge­stal­tet er bar­rie­re­freie Mar­ken, Web­sei­ten und Aus­stel­lun­gen.

 

Lisette Reuter

Li­set­te Reu­ter ist ei­ne So­zi­al­un­ter­neh­me­rin und Kul­tur­ma­na­ge­rin aus Köln. Sie ist die Grün­de­rin und Ge­schäfts­füh­re­rin von Un-La­bel, ei­ner in­ter­na­tio­na­len Ver­net­zungs- und Pro­jekt­platt­form für in­klu­si­ve Kunst und Kul­tur.