Key Visual für die Bewerbung Frankfurt RheinMain als World Design Capital. Gestaltung: Jonas Deuter mit Leonie Ambrosius und Anna Sukhova

DESIGN DISKURS

Welche demokratische Dimension hat Gestaltung? Diese Frage bildete den Ausgangspunkt für die Gestaltung eines visuellen Erscheinungsbildes für die Bewerbung der Region Frankfurt RheinMain als World Design Capital 2026. Mit Bezug auf den Grafik-Designer Karl Gerstner gestalten wir ein variables Design, das durch andere Designer*innen verändert werden kann.

Veröffentlicht am 02.08.2023

„Demokratie wohnt eine Gestaltungsdimension inne“ – so fasst es Dominik Herold vom Verein „mehr als wählen“ auf dem DDC Konvent für Demokratisches Design im März 2022 in Frankfurt am Main zusammen. Denn in der Demokratie, so Herold, gibt es keinen vorgegebenen Konsens, er muss errungen werden. Demokratie ist damit nie im Sein, sondern dauerhaft im Werden. Aus Sicht des Designs stellt sich die Frage: Welche demokratische Dimension hat Gestaltung? Diese Frage bildete den Ausgangspunkt für die Gestaltung eines visuellen Erscheinungsbildes für die Bewerbung der Region Frankfurt RheinMain als World Design Capital 2026, die wir als Team, bestehend aus Leonie Ambrosius, Anna Sukhova und mir, realisieren.

Design for Democracy

Im Claim der Bewerbung „Design for Democracy. Atmospheres for a better life“ wird der Anspruch einer verantwortungsvollen, nachhaltigen und partizipativen Gestaltung von Umwelt, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft formuliert. Die Zielsetzung der Bewerbung ist damit auch über den Titel als „World Design Capital“ hinaus relevant, gar alternativlos, wenn wir Design endlich nicht nur als Teil der Lösung, sondern auch als Teil des Problems begreifen. „Design for Democracy“ versteht sich nicht nur als Bewerbung um einen schmückenden Titel, sondern als Aufbruch einer gestalterischen Bewegung.


„‘Design for Democracy‘ versteht sich nicht nur als Bewerbung um einen schmückenden Titel, sondern als Auf­bruch einer gestalterischen Bewegung.“


Um sich der Frage nach einer demokratischen Dimension von Gestaltung zu nähern, hilft zunächst ein Blick auf die Politik. In der Tradition stark ideologisch geprägter, (gesellschafts-)politischer Bewegungen dominiert eine starke Zeichenhaftigkeit: Sei es die rote Sonne der Anti-Atomkraft-Bewegung, die weiße Taube der Friedensbewegung, das Herz im Kreisumriss der Letzten Generation, die rot-schwarz wehenden Fahnen der Antifa und auf der extremen Seite des Spektrums etwa die Maschinenpistole der RAF. Doch ist es nicht ein grundlegender Widerspruch, einer konsumkritischen Bewegung ein klassisches Corporate Design überzustülpen? Glauben wir Gestalter*innen wirklich, dass die Forderungen von Fridays for Future an Glaubwürdigkeit verlieren könnten, wenn sie nicht exakt im Grünton #1DA64A gesetzt sind, der angegebenen Farbe ihrer „Corporate Identity“? Ich würde sagen: Protest überzeugt nicht dadurch, dass er „on brand“ ist.

Der Werkstattwagen von „Design for Democracy“ auf dem Paulskirchenfest 2023. Foto: Ben Kuhlmann

Demokratisch gestalten

Ansätze, eine politische Bewegung demokratisch zu gestalten, liegen auf der Hand: gleichberechtigtes, kollektives Arbeiten und Mitbestimmung durch demokratische Entscheidungsfindung etwa. Konzepte also, die das Potenzial haben, zu ermächtigen, inklusiv zu sein oder Zugänge zu Wissen zu eröffnen. Gleichzeitig sind sie aber nicht nur mit hohem Aufwand verbunden: Der Versuch, gestalterische Lösungen gemeinsam zu erarbeiten, birgt auch das Risiko der konzeptionellen Verwässerung. Zielführender erscheint es, im Sinne der repräsentativen Demokratie Probleme offen und partizipativ zu identifizieren, die Verantwortung für ihre gestalterische Umsetzung dann aber in die Hände gewählter Repräsentant*innen zu legen. Mir persönlich ist eine stringente Gestaltung, die nicht meinen ästhetischen Vorstellungen entspricht, lieber als eine basisdemokratische Lösung, die am Ende konzeptionell nicht konsequent ist. Bleibt also die Frage: Wie kommt Stringenz ins demokratisches Grafik-Design?

Visuelle Spielräume

Eine mögliche Antwort auf dieses Dilemma fand ich in der Auseinandersetzung mit dem Schweizer Künstler und Grafik-Designer Karl Gerstner (1930–2017). In seinem grafischen Werk entfaltet Gerstner das Prinzip der Variabilität, indem er versucht, das Verhältnis zwischen „Kontinuität und Abwechslung“ auszuloten – also grafische Wiedererkennbarkeit zu erzeugen, ohne in Gleichförmigkeit zu verfallen. Das Erscheinungsbild für den Stuttgarter Möbelhersteller Christian Holzäpfel (ab 1959) zeigt dies anschaulich. Als Bildmarke entwarf Gerstner ein stilisiertes Versal-H, das in seiner Höhe und Breite variabel ist. Wenn es der Gestaltung jedoch dient, werden die Elemente aber auch gänzlich verändert, etwa auf der Kartonverpackung des Büromöbels „LIF“, auf dem das Logo in mehreren Schritten zerlegt wird wie das Möbel selbst.

Möbel LIF mit bedruckter Kartonverpackung, Foto: Alexander von Steiger, GGK Basel (Schweizerische Nationalbibliothek NB, Bern, Graphische Sammlung, Archiv Karl Gerstner) © Karl Gerstner, Estate

In seiner gestalterischen Arbeit ging es Gerstner nicht darum, demokratisch zu sein. In dieser Hinsicht scheint Gerstner als Beispiel auf den ersten Blick sogar unzutreffend, da er auf die Hierarchie zwischen seiner Kreativdirektion und den ausführenden Gestalter*innen bestand. Doch das Prinzip der Variabilität legt die Verantwortung für die Einhaltung und Entwicklung des Corporate Designs in die Hände der Gestalter*innen und setzt gestalterische Sensibilität voraus, allein schon deshalb, weil es keine Guidelines gibt, die Entwürfe als formal richtig oder falsch definieren. Dass es kein Manual für die Holzäpfel-Entwürfe gibt, liegt auch an der Entstehungszeit. Doch auch in den 1980er und 1990er Jahren formulierte Gerstner gestalterische Vorgaben für das IT-Unternehmen IBM bewusst offen, um zukünftige Gestalter*innen „bei der Stange zu halten“, wie er schreibt, und ihnen „Spielraum für jede gute Idee“ zu lassen. 


„Das Prinzip der Variabilität legt die Verantwortung für die Einhaltung und Entwicklung des Corporate Designs in die Hände der Gestalter*innen.“


Der Ansatz bildet damit eine Gegenposition zu zeitgenössischen Bestrebungen, Erscheinungsbilder so detailliert zu definieren, dass sich Entwurfsprozesse vollständig automatisieren lassen. So hat die Stuttgarter Designagentur Strichpunkt für das globale Corporate Design der Deutschen Post DHL Group einen „Layout Creator“ mit künstlicher Intelligenz entwickelt, der Layoutvarianten automatisiert erstellt und die qualitative Auswahl übernimmt. Visuelle Spielräume werden durch den „Layout Creator“ gänzlich eliminiert. Das KI-Tool weist auf die absehbaren prekären Verhältnisse im Grafik-Design hin, indem es gestalterische Hierarchien unverrückbar festigt und menschliche Beschäftigungsfelder auflöst, die ursprünglich an der Erstellung grafischer Umsetzungen beteiligt waren.

Variabilität als demokratisches Gestaltungsprinzip

Das demokratische Moment in Gerstners gestalterischer Haltung erschließt sich erst auf den zweiten Blick. In einer sich verändernden Welt, die mehr denn je eine verantwortungsvolle und nachhaltige Gestaltung von Umwelt, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft erfordert, verschieben sich die Anforderungen an gestalterische Aufgaben: Da keine starren, sondern zunehmend dynamische Zustände verhandelt werden, kann eine gestalterische Lösung nicht unveränderbar sein. Ähnlich wie Demokratie ist auch grafische Gestaltung dauerhaft im Werden. Die Prozesshaftigkeit geht über die Entwurfsphase hinaus und wird zur impliziten Anforderung an die fortlaufende Gestaltung.


„Ähnlich wie Demokratie ist auch grafische Gestaltung dauerhaft im Werden.“


Dieses Verständnis eines permanenten demokratischen Prozesses, der in die Bewegung „Design for Democracy. Atmospheres for a better life“ eingeschrieben ist, wird zum Ausgangspunkt ihres visuellen Erscheinungsbildes, das sich in seiner Variabilität selbst einer ständigen Transformation unterzieht. Eine verbindliche, starre zeichenhafte Setzung ist für die Bewegung damit unvereinbar, sodass wir uns entschieden haben, in eigenen Medien auf ein statisches Logo zu verzichten. Variabilität entsteht durch das Entwerfen, Überarbeiten und Verwerfen von gestalterischen Elementen, die in ihrer Kombination das Erscheinungsbild ergeben. Sie umfassen das Grundlinienraster, die Schrift, die Farbe Rot, ein typografisches Pattern, ein geometrisches Pattern sowie eine schwarze Box für Titel und Claim. Um die Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten, wiederholen sich einzelne Elemente. Grundsätzlich werden aber nie alle Elemente gleichzeitig eingesetzt. Das Key Visual kann sich aus verschiedenen Gestaltungselementen zusammensetzen. Es gibt also kein singuläres Key Visual. Seit der Entwicklung im Herbst 2021 entwickelt sich das Erscheinungsbild von „Design for Democracy. Atmospheres for a better life“ dynamisch weiter – neue Schriften und Farben kommen etwa hinzu, andere werden im Gegenzug ausgesetzt.

Die Designer*innen der Möblierung von „Design for Democracy. Atmospheres for a better life“ führen einen senfgelben Akzent ein. Diese Farbe findet dadurch den Weg in die Grafik. Foto: Ben Kuhlmann

Verantwortung für das visuelle Erscheinungsbild jedoch mittelfristig weitergegeben und in einen demokratischen Transformationsprozess überführt werden. Auch wenn der Entwurf der ersten Gestaltungselemente in unseren Händen lag, bleibt offen, durch wen und wie sich das Erscheinungsbild in den kommenden Jahren verändern wird. Denn die Guideline orientiert sich nicht an konkreten Gestaltungselementen; exakte Farbwerte oder Millimeterangaben etwa sind zweitrangig. Festgelegt ist lediglich, dass das Erscheinungsbild nie im Sein, sondern im Werden verankert sein soll. Über die bloße Komposition visueller Elemente hinaus hat Gestaltung damit die Fähigkeit, aber auch die Verantwortung, Transformationsprozesse zu moderieren, visuell zu begleiten und zu vermitteln. Sie ist auf gut ausgebildete Gestalter*innen angewiesen – und auf Auftraggeber*innen, die den Fähigkeiten von Gestalter*innen vertrauen.

Jonas Deuter

ist freiberuflicher Grafik-Designer. Er studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in der Fachklasse Schrift und promovierte anschließend an der HfG Offenbach über die Entwurfsmethodologie des Schweizer Grafik-Designers und Künstlers Karl Gerstner. Seit 2023 ist er Juniorkurator am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt.