DESIGN DISKURS

Seit ge­rau­mer Zeit ver­öf­fent­licht das Vi­tra De­sign Mu­se­um un­ter dem Ti­tel „Dis­kur­s“ Bei­trä­ge, die sich aus den Aus­stel­lungs­pro­jek­ten er­ge­ben. Dar­über und wie das Mu­se­um die Trans­for­ma­ti­on in der Bran­che und die De­ko­lo­ni­sie­rung der Kunst­welt be­glei­tet, spricht Ger­da Breu­er mit Jo­chen Ei­sen­brand, dem Chef­ku­ra­tor des Hau­ses.

Veröffentlicht am 27.05.2024

Gerda Breuer: Lie­ber Jo­chen Ei­sen­brand, Sie ar­bei­ten seit fast 25 Jah­ren für das Vi­tra De­sign Mu­se­um, seit zehn Jah­ren sind Sie dort Chef-Ku­ra­tor. Das Vi­tra De­sign Mu­se­um in Weil am Rhein ist nicht nur ein gro­ßes Ar­chi­tek­tur-Are­al von Bau­ten welt­be­rühm­ter Ar­chi­tekt*in­nen und prä­sen­tier­te be­reits enorm vie­le Aus­stel­lun­gen samt Ka­ta­lo­gen, son­dern ver­öf­fent­licht seit ge­rau­mer Zeit auch Dis­kur­se von re­nom­mier­ten De­si­gner*in­nen, Ar­chi­tekt*in­nen und Wis­sen­schaft­ler*in­nen, oft par­al­lel zu den Aus­stel­lun­gen. War­um gibt es das For­mat „Dis­kur­s“? Nach wel­chen Kri­te­ri­en wäh­len Sie die Bei­trä­ge aus?
 
Jochen Eisenbrand: Die Bei­trä­ge, die wir un­ter dem Über­be­griff „Dis­kur­s“ auf un­se­rer Web­site ver­öf­fent­li­chen, er­ge­ben sich zum grö­ß­ten Teil un­mit­tel­bar aus un­se­ren Aus­stel­lungs­pro­jek­ten. Es han­delt sich um Po­di­ums­dis­kus­sio­nen, die wir an­läss­lich von Aus­stel­lungs­er­öff­nun­gen oder als Teil des Be­gleit­pro­gramms or­ga­ni­sie­ren; In­ter­views, die wir zur Vor­be­rei­tung von Aus­stel­lungs­pro­jek­ten und als Teil un­se­rer ku­ra­to­ri­schen Re­cher­chen füh­ren; oder Vor­trä­ge von De­si­gner*in­nen, Ar­chi­tekt*in­nen und Wis­sen­schaft­ler*in­nen, die wir ein­la­den, um mit ih­nen über ih­re Ar­beit zu spre­chen. In al­len Fäl­len bie­tet uns das die Mög­lich­keit, The­men und As­pek­te zu ver­tie­fen, die wir in un­se­ren Aus­stel­lung be­han­deln oder viel­leicht manch­mal auch nur strei­fen kön­nen, oder auch ein­fach, an­de­ren Stim­men als nur den „ku­ra­to­ri­schen“ ei­ne Platt­form zu ge­ben. Ei­ne fi­xe Lis­te an Kri­te­ri­en ha­ben wir für die Aus­wahl of­fen ge­stan­den nicht. In­dem wir die­se Auf­zeich­nun­gen auf un­se­rer Web­site hoch­la­den, möch­ten wir die­sen Teil un­se­rer Ar­beit na­tür­lich auch ei­nem wei­te­ren Pu­bli­kum zu­gäng­lich ma­chen.

Transformation begleiten – wie mit der Ausstellung „Garden Futures“, die 2023 von Viviane Stappmanns, Nina Steinmüller, Marten Kuijpers und Maria Heinrich für das Vitra Design Museum kuratiert wurde. Ausstellungsgestaltung: Formafantasma. Bild © Vitra Design Museum, Ludger Paffrath

Gerda Breuer: Vie­le der Aus­stel­lungs­the­men und Dis­kurs­bei­trä­ge wid­men sich neue­ren Fra­ge­stel­lun­gen im De­sign. Man spricht heu­te von der (gro­ßen) Trans­for­ma­ti­on. Die Welt muss sich än­dern, um den neu­en An­for­de­run­gen ge­nü­gen zu kön­nen. Spielt es für Sie ei­ne Rol­le, dass sich die De­sign­sze­ne weg von nor­ma­ti­ven äs­the­ti­schen Fra­gen hin zu ei­ner Wer­te­ori­en­tie­rung ent­wi­ckelt? Sie ha­ben 2018/19 ei­ne Aus­stel­lung über Vic­tor Pa­pa­n­ek ge­zeigt und 2019 eben­falls die Prä­sen­ta­ti­on des in­di­schen Ar­chi­tek­ten Bal­krish­na Do­shi. Ar­chi­tek­tur für den Men­schen. Soll­ten De­si­gner*in­nen in Zu­kunft ei­ne neue ge­sell­schaft­li­che Rol­le über­neh­men?
 
Jochen Eisenbrand: De­sign und Ar­chi­tek­tur sind ja oh­ne­hin ge­sell­schaft­li­che Küns­te, die un­se­ren All­tag und un­se­re Um­welt prä­gen. Im De­sign und in der Ar­chi­tek­tur ist schon seit Jah­ren er­freu­li­cher­wei­se ein wach­sen­des Be­wusst­sein für die­se Ver­ant­wor­tung zu be­ob­ach­ten. Als Mu­se­um wie­der­um se­hen wir uns in der Ver­ant­wor­tung, die­se po­si­ti­ve Ent­wick­lung zu be­glei­ten und da­mit hof­fent­lich auch zu un­ter­stüt­zen. Sei es, in­dem wir das Werk wich­ti­ger his­to­ri­scher Vor­den­ker wie Pa­pa­n­ek oder Do­shi zei­gen, sei es mit Aus­stel­lun­gen, die sich mit der Rol­le von De­sign und Ar­chi­tek­tur in ak­tu­el­len Um­welt­the­men be­schäf­ti­gen. Da­zu ge­hö­ren Pro­jek­te wie „Plas­tik. Die Welt neu den­ken“ in Zu­sam­men­ar­beit mit dem V&A Dun­dee und dem maat in Lis­sa­bon, „Gar­den Fu­tures“ in Ko­ope­ra­ti­on mit dem Nieu­we In­sti­tuut in Rot­ter­dam oder die Aus­stel­lung „Trans­form! De­sign und die Zu­kunft der En­er­gie“, die wir En­de März er­öff­net ha­ben. Wenn man die letz­ten zwan­zig Jah­re be­trach­tet, lässt sich bei uns schon ei­ne ge­wis­se Ver­schie­bung in der Pro­gramm­pla­nung und The­men­wahl be­ob­ach­ten.

Jochen Eisenbrand ist Chef-Kurator am Vitra Design Museum in Weil am Rhein. Bild © Lucia Hunziker

Gerda Breuer: Mich in­ter­es­siert in die­sem Zu­sam­men­hang be­son­ders die Fra­ge nach der De­ko­lo­ni­sa­ti­on. Vor ei­ni­gen Jah­ren hat ih­re Kol­le­gin Ame­lie Klein die Aus­stel­lung „Ma­king Af­ri­ca. A Con­ti­nent of Con­tem­pora­ry De­si­gn“ ku­ra­tiert. Afri­ka wur­de als auf­stre­ben­der Kon­ti­nent ge­zeigt, als Ex­pe­ri­men­tier­feld, von dem aus neue An­sät­ze und Lö­sun­gen in die Welt ge­hen könn­ten. Sie spre­chen so­gar von Afri­ka „als Trieb­fe­der für ei­ne neue Dis­kus­si­on, was De­sign im 21. Jahr­hun­dert leis­ten kan­n“. Ich ha­be aber den Ein­druck, dass die­se Dis­kus­sio­nen oft nicht wei­ter­ge­führt wer­den. Afri­ka bleibt für uns West­eu­ro­pä­er*in­nen ein frem­der Kon­ti­nent, Bil­der vom ver­arm­ten ver­ges­se­nen Land hal­ten sich hart­nä­ckig.

Jochen Eisenbrand: Al­lein die Tat­sa­che, dass man im­mer noch oft von die­sem gan­zen rie­si­gen Kon­ti­nent statt von ein­zel­nen Län­dern und den vie­len ganz un­ter­schied­li­chen Sphä­ren spricht, zeigt ja schon ei­nen Teil des Pro­blems. Ame­lie Klein je­den­falls hat sich da­mals zu­al­ler­erst die Fra­ge ge­stellt, wie man über Afri­ka spre­chen soll, darf und kann, wenn man als eu­ro­päi­sches Mu­se­um ei­ne Aus­stel­lung über den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent macht. Um ei­nen eu­ro­zen­tri­schen Blick zu ver­mei­den, hat sie dann ei­nen un­ver­gleich­li­chen Auf­wand be­trie­ben, in­ner­halb von acht­zehn Mo­na­ten hun­dert Ge­sprä­che mit Theo­re­ti­kern und Prak­ti­kern vom afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent ge­führt und Ge­sprächs­run­den in Kap­stadt, Da­kar, Nai­ro­bi und Jo­han­nes­burg or­ga­ni­siert. Da­zu gab es ei­nen fünf­zehn­köp­fi­gen Ex­per­ten­bei­rat un­ter Lei­tung von Ok­wui En­we­zor. Heu­te wür­de man, den­ke ich, für ein ver­gleich­ba­res Pro­jekt zu­dem mit ei­nem afri­ka­ni­schen Part­ner­mu­se­um zu­sam­men­ar­bei­ten wol­len. Seit „Ma­king Af­ri­ca“ und der zeit­gleich bei uns ge­zeig­ten Aus­stel­lung „Ar­chi­tek­tur der Un­ab­hän­gig­keit. Afri­ka­ni­sche Mo­der­ne“ von Ma­nu­el Herz im Jahr 2015, al­so vor fast zehn Jah­ren, ha­ben wir uns auf der Ebe­ne ein­zel­ner Aus­stel­lun­gen dem afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent oder ein­zel­nen afri­ka­ni­schen Län­dern bis­lang nicht noch­mals ge­wid­met. Da­für ver­su­chen wir lang­sam, das De­sign­ge­sche­hen in afri­ka­ni­schen Län­dern in un­se­ren Aus­stel­lun­gen, Pu­bli­ka­tio­nen und An­schaf­fun­gen für die Mu­se­ums­samm­lung stär­ker zu be­rück­sich­ti­gen. Da­bei hel­fen die Di­gi­ta­li­sie­rung und die so­zia­len Me­di­en, die afri­ka­ni­schen De­si­gner*in­nen oder Ma­ker*in­nen mehr Sicht­bar­keit ver­schaf­fen. Über­ge­ord­ne­te Platt­for­men, die ei­nen Über­blick ge­ben und die Ori­en­tie­rung er­leich­tern wür­den, sind mir lei­der bis­her nicht be­kannt. In­so­fern be­we­gen wir uns zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen nur lang­sam.

Wie kann ein europäisches Museum über Afrika sprechen? – fragte sich Kuratorin Amelie Klein für die Ausstellung „Making Africa – A Continent of Contemporary Design“ im Vitra Design Museum (2015). Ausstellungsgestaltung: EMYL, Basel. Bild © Vitra Design Museum, Mark Niedermann

Gerda Breuer: Ok­wui En­we­zor war be­ra­ten­der Ku­ra­tor die­ser Aus­stel­lung. Er war als Ni­ge­ria­ner ja lan­ge die gro­ße Aus­nah­me in der Aus­stel­lungs- und Mu­se­ums­land­schaft, war Di­rek­tor der do­cu­men­ta 11 in Kas­sel, des Hau­ses der Kunst in Mün­chen und Ku­ra­tor der 56. Kunst­bi­en­na­le in Ve­ne­dig 2015. Von ihm ist ein Bei­trag in ih­rer Dis­kurs-Rei­he zu le­sen. En­we­zor schlägt ein neu­es Vo­ka­bu­lar vor, nicht nur für Afri­ka, son­dern auch für all die­je­ni­gen Län­der, die frü­her als die Drit­te Welt be­zeich­net und häu­fig mit Bil­lig­pro­duk­ti­on und Mas­sen­kon­sum in Ver­bin­dung ge­bracht wur­den. Er schlägt den Be­griff „Ma­kin­g“ vor. Das Ma­chen soll­te ei­ne Art sub­ver­si­ver Akt, ei­ne Er­for­schung sein. Kön­nen Sie Bei­spie­le nen­nen, die auch für die west­li­che Welt re­le­vant sind?

Jochen Eisenbrand: Zwei Ar­bei­ten, die mir aus der Aus­stel­lung „Ma­king Af­ri­ca“ be­son­ders haf­ten ge­blie­ben sind, sind ein Wand­tep­pich von El Anatsui, den er, wie vie­le sei­ner Ar­bei­ten, aus Fla­schen­ver­schlüs­sen ge­fer­tigt hat, und Gonça­lo Ma­bun­dos thron­ar­ti­ger Ses­sel, den er aus Waf­fen aus dem an­go­la­ni­schen Bür­ger­krieg zu­sam­men­ge­schmie­det hat, die funk­ti­ons­un­tüch­tig ge­macht wur­den. Bei­de Ar­bei­ten ver­kör­pern die Nut­zung von vor­ge­fun­de­nen Ob­jek­ten und Ma­te­ria­li­en, die die Ge­stal­ter wie­der­ver­wen­den, sich zu ei­gen ma­chen und de­nen sie da­mit ei­ne ganz neue Be­deu­tung ge­ben. Sol­che Stra­te­gi­en der An­eig­nung und Trans­for­ma­ti­on sind heu­te ge­ne­rell von gro­ßer Re­le­vanz.

Gerda Breuer: ie­ber Jo­chen Ei­sen­brand, es wird deut­lich, dass die von Ih­nen auf­ge­wor­fe­nen The­men ein wei­tes Dis­kus­si­ons­feld er­öff­nen. Das kann man mit ei­nem In­ter­view al­lein nicht klä­ren und ab­schlie­ßen. Ich hof­fe sehr, dass das Ge­spräch aber ei­nen An­reiz schafft, sich mit den neu­en Dis­kurs­fel­dern ge­mein­sam aus­ein­an­der zu set­zen, die ja sehr viel­fäl­tig sind. Es be­steht in mei­nen Au­gen heu­te un­ter De­si­gner*in­nen und in der Ge­sell­schaft über­haupt da­zu ein gro­ßer Be­darf. Des­halb hof­fe ich sehr, dass wir ge­mein­sa­me Ge­sprä­che wei­ter­füh­ren kön­nen, ha­ben Sie vor­erst herz­li­chen Dank.

Gonçalo Mabunda fertigt aus Waffen Sitzmöbel, Masken und anthropomorphe Skulpturen – wie den Sessel www.crise.com (2012). Bild © Vitra Design Museum, Jürgen Hans

Jochen Eisenbrand (*1970)

ist Chef­ku­ra­tor am Vi­tra De­sign Mu­se­um in Weil am Rhein. Nach dem Stu­di­um der An­ge­wand­ten Kul­tur­wis­sen­schaf­ten an der Uni­ver­si­tät Lü­ne­burg pro­mo­vier­te er 2013 über Ge­or­ge Nel­son an der Ber­gi­schen Uni­ver­si­tät Wup­per­tal. Am Vi­tra De­sign Mu­se­um ku­ra­tier­te er Aus­stel­lun­gen wie „Air­world – De­sign und Ar­chi­tek­tur für die Flug­rei­se“, „Heim­li­che Hel­den – Das Ge­nie all­täg­li­cher Din­ge“ und „Ho­me Sto­ries. 100 Jah­re, 20 vi­sio­nä­re In­te­ri­eur­s“ so­wie Re­tro­spek­ti­ven zu Ge­or­ge Nel­son, Louis Kahn (mit Sta­nis­laus von Moos), Al­var Aal­to und Alex­an­der Gi­rard. Sei­ne ak­tu­el­le Aus­stel­lung „Trans­form! De­sign und die Zu­kunft der En­er­gie“ wird bis 1. Sep­tem­ber 2024 im Vi­tra De­sign Mu­se­um ge­zeigt. Ge­mein­sam mit Ma­teo Kries ver­öf­fent­lich­te er 2019 den „At­las des Mö­bel­de­sign­s“, das Grund­la­gen­werk zu 200 Jah­ren Mö­bel­ge­schich­te.

www.design-museum.de

Vitra ist Fördermitglied des DDC.

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