DESIGN DISKURS
Seit geraumer Zeit veröffentlicht das Vitra Design Museum unter dem Titel „Diskurs“ Beiträge, die sich aus den Ausstellungsprojekten ergeben. Darüber und wie das Museum die Transformation in der Branche und die Dekolonisierung der Kunstwelt begleitet, spricht Gerda Breuer mit Jochen Eisenbrand, dem Chefkurator des Hauses.
Gerda Breuer: Lieber Jochen Eisenbrand, Sie arbeiten seit fast 25 Jahren für das Vitra Design Museum, seit zehn Jahren sind Sie dort Chef-Kurator. Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein ist nicht nur ein großes Architektur-Areal von Bauten weltberühmter Architekt*innen und präsentierte bereits enorm viele Ausstellungen samt Katalogen, sondern veröffentlicht seit geraumer Zeit auch Diskurse von renommierten Designer*innen, Architekt*innen und Wissenschaftler*innen, oft parallel zu den Ausstellungen. Warum gibt es das Format „Diskurs“? Nach welchen Kriterien wählen Sie die Beiträge aus?
Jochen Eisenbrand: Die Beiträge, die wir unter dem Überbegriff „Diskurs“ auf unserer Website veröffentlichen, ergeben sich zum größten Teil unmittelbar aus unseren Ausstellungsprojekten. Es handelt sich um Podiumsdiskussionen, die wir anlässlich von Ausstellungseröffnungen oder als Teil des Begleitprogramms organisieren; Interviews, die wir zur Vorbereitung von Ausstellungsprojekten und als Teil unserer kuratorischen Recherchen führen; oder Vorträge von Designer*innen, Architekt*innen und Wissenschaftler*innen, die wir einladen, um mit ihnen über ihre Arbeit zu sprechen. In allen Fällen bietet uns das die Möglichkeit, Themen und Aspekte zu vertiefen, die wir in unseren Ausstellung behandeln oder vielleicht manchmal auch nur streifen können, oder auch einfach, anderen Stimmen als nur den „kuratorischen“ eine Plattform zu geben. Eine fixe Liste an Kriterien haben wir für die Auswahl offen gestanden nicht. Indem wir diese Aufzeichnungen auf unserer Website hochladen, möchten wir diesen Teil unserer Arbeit natürlich auch einem weiteren Publikum zugänglich machen.
Gerda Breuer: Viele der Ausstellungsthemen und Diskursbeiträge widmen sich neueren Fragestellungen im Design. Man spricht heute von der (großen) Transformation. Die Welt muss sich ändern, um den neuen Anforderungen genügen zu können. Spielt es für Sie eine Rolle, dass sich die Designszene weg von normativen ästhetischen Fragen hin zu einer Werteorientierung entwickelt? Sie haben 2018/19 eine Ausstellung über Victor Papanek gezeigt und 2019 ebenfalls die Präsentation des indischen Architekten Balkrishna Doshi. Architektur für den Menschen. Sollten Designer*innen in Zukunft eine neue gesellschaftliche Rolle übernehmen?
Jochen Eisenbrand: Design und Architektur sind ja ohnehin gesellschaftliche Künste, die unseren Alltag und unsere Umwelt prägen. Im Design und in der Architektur ist schon seit Jahren erfreulicherweise ein wachsendes Bewusstsein für diese Verantwortung zu beobachten. Als Museum wiederum sehen wir uns in der Verantwortung, diese positive Entwicklung zu begleiten und damit hoffentlich auch zu unterstützen. Sei es, indem wir das Werk wichtiger historischer Vordenker wie Papanek oder Doshi zeigen, sei es mit Ausstellungen, die sich mit der Rolle von Design und Architektur in aktuellen Umweltthemen beschäftigen. Dazu gehören Projekte wie „Plastik. Die Welt neu denken“ in Zusammenarbeit mit dem V&A Dundee und dem maat in Lissabon, „Garden Futures“ in Kooperation mit dem Nieuwe Instituut in Rotterdam oder die Ausstellung „Transform! Design und die Zukunft der Energie“, die wir Ende März eröffnet haben. Wenn man die letzten zwanzig Jahre betrachtet, lässt sich bei uns schon eine gewisse Verschiebung in der Programmplanung und Themenwahl beobachten.
Gerda Breuer: Mich interessiert in diesem Zusammenhang besonders die Frage nach der Dekolonisation. Vor einigen Jahren hat ihre Kollegin Amelie Klein die Ausstellung „Making Africa. A Continent of Contemporary Design“ kuratiert. Afrika wurde als aufstrebender Kontinent gezeigt, als Experimentierfeld, von dem aus neue Ansätze und Lösungen in die Welt gehen könnten. Sie sprechen sogar von Afrika „als Triebfeder für eine neue Diskussion, was Design im 21. Jahrhundert leisten kann“. Ich habe aber den Eindruck, dass diese Diskussionen oft nicht weitergeführt werden. Afrika bleibt für uns Westeuropäer*innen ein fremder Kontinent, Bilder vom verarmten vergessenen Land halten sich hartnäckig.
Jochen Eisenbrand: Allein die Tatsache, dass man immer noch oft von diesem ganzen riesigen Kontinent statt von einzelnen Ländern und den vielen ganz unterschiedlichen Sphären spricht, zeigt ja schon einen Teil des Problems. Amelie Klein jedenfalls hat sich damals zuallererst die Frage gestellt, wie man über Afrika sprechen soll, darf und kann, wenn man als europäisches Museum eine Ausstellung über den afrikanischen Kontinent macht. Um einen eurozentrischen Blick zu vermeiden, hat sie dann einen unvergleichlichen Aufwand betrieben, innerhalb von achtzehn Monaten hundert Gespräche mit Theoretikern und Praktikern vom afrikanischen Kontinent geführt und Gesprächsrunden in Kapstadt, Dakar, Nairobi und Johannesburg organisiert. Dazu gab es einen fünfzehnköpfigen Expertenbeirat unter Leitung von Okwui Enwezor. Heute würde man, denke ich, für ein vergleichbares Projekt zudem mit einem afrikanischen Partnermuseum zusammenarbeiten wollen. Seit „Making Africa“ und der zeitgleich bei uns gezeigten Ausstellung „Architektur der Unabhängigkeit. Afrikanische Moderne“ von Manuel Herz im Jahr 2015, also vor fast zehn Jahren, haben wir uns auf der Ebene einzelner Ausstellungen dem afrikanischen Kontinent oder einzelnen afrikanischen Ländern bislang nicht nochmals gewidmet. Dafür versuchen wir langsam, das Designgeschehen in afrikanischen Ländern in unseren Ausstellungen, Publikationen und Anschaffungen für die Museumssammlung stärker zu berücksichtigen. Dabei helfen die Digitalisierung und die sozialen Medien, die afrikanischen Designer*innen oder Maker*innen mehr Sichtbarkeit verschaffen. Übergeordnete Plattformen, die einen Überblick geben und die Orientierung erleichtern würden, sind mir leider bisher nicht bekannt. Insofern bewegen wir uns zugegebenermaßen nur langsam.
Gerda Breuer: Okwui Enwezor war beratender Kurator dieser Ausstellung. Er war als Nigerianer ja lange die große Ausnahme in der Ausstellungs- und Museumslandschaft, war Direktor der documenta 11 in Kassel, des Hauses der Kunst in München und Kurator der 56. Kunstbiennale in Venedig 2015. Von ihm ist ein Beitrag in ihrer Diskurs-Reihe zu lesen. Enwezor schlägt ein neues Vokabular vor, nicht nur für Afrika, sondern auch für all diejenigen Länder, die früher als die Dritte Welt bezeichnet und häufig mit Billigproduktion und Massenkonsum in Verbindung gebracht wurden. Er schlägt den Begriff „Making“ vor. Das Machen sollte eine Art subversiver Akt, eine Erforschung sein. Können Sie Beispiele nennen, die auch für die westliche Welt relevant sind?
Jochen Eisenbrand: Zwei Arbeiten, die mir aus der Ausstellung „Making Africa“ besonders haften geblieben sind, sind ein Wandteppich von El Anatsui, den er, wie viele seiner Arbeiten, aus Flaschenverschlüssen gefertigt hat, und Gonçalo Mabundos thronartiger Sessel, den er aus Waffen aus dem angolanischen Bürgerkrieg zusammengeschmiedet hat, die funktionsuntüchtig gemacht wurden. Beide Arbeiten verkörpern die Nutzung von vorgefundenen Objekten und Materialien, die die Gestalter wiederverwenden, sich zu eigen machen und denen sie damit eine ganz neue Bedeutung geben. Solche Strategien der Aneignung und Transformation sind heute generell von großer Relevanz.
Gerda Breuer: ieber Jochen Eisenbrand, es wird deutlich, dass die von Ihnen aufgeworfenen Themen ein weites Diskussionsfeld eröffnen. Das kann man mit einem Interview allein nicht klären und abschließen. Ich hoffe sehr, dass das Gespräch aber einen Anreiz schafft, sich mit den neuen Diskursfeldern gemeinsam auseinander zu setzen, die ja sehr vielfältig sind. Es besteht in meinen Augen heute unter Designer*innen und in der Gesellschaft überhaupt dazu ein großer Bedarf. Deshalb hoffe ich sehr, dass wir gemeinsame Gespräche weiterführen können, haben Sie vorerst herzlichen Dank.