DDC Ehrenmitglied 2019
Arno Brandlhuber bezieht Stellung, wenn es um seine Anliegen Architektur als Ressource, Wohnen und Arbeiten sowie Bodeneigentumsverhältnisse geht. Die Corona-Krise sieht unser neues DDC Ehrenmitglied als Chance – sofern wir als politisch Handelnde unsere Grundrechte einfordern.
Durch Arno Brandlhubers Schaffen, das neben Gebautem auch Filme, Publikationen und Ausstellungen umfasst, ziehen sich politische Themen wie ein roter Faden. Von seinen gestaltenden Kolleg*innen wünscht er sich mehr politisches Bewusstsein. Das Videogespräch anlässlich der Ernennung zum DDC Ehrenmitglied fand in der ersten Aprilwoche 2020 inmitten der Corona-Pandemie statt – einer Zeit, die einem, der die Veränderung sucht wie Brandlhuber, zupasszukommen scheint. Endlich werden Wohnen und Arbeiten konsequent vermischt. Und das „Weiter in der Komfortzone“ hat ein Ende.
Wenn dieser Artikel erscheint, wird die Lage in der Corona-Pandemie schon eine ganz andere sein. Dennoch wollen wir der Frage nachgehen, da sie als Zeitdokument dienen kann: Wie reagieren Sie ganz persönlich auf diesen Ausnahmezustand?
Arno Brandlhuber: Ich lerne gerade, diese Krise nicht als Ausnahmezustand wahrzunehmen, sondern als „neue Normalität“. Damit meine ich nicht den Coronavirus an sich, sondern die Revision unserer von Marktlogik und Wachstum geprägten Zukunftsvorstellungen. Einschließlich der Erfahrung, dass ich physische Mobilität, besonders Flugreisen, erheblich reduzieren kann. Im Zusammenhang mit der Lehre an der ETH Zürich stellen wir gerade gemeinsam mit den Student*innen fest, dass sich die Werkzeuge und Inhalte, an denen wir arbeiten, auch auf Distanz vermitteln lassen. Die digitale Lehre eröffnet neue Maßstäbe und Zugänglichkeiten, die wir beibehalten wollen. In vielen Bereichen gibt es notgedrungen einen Innovationsschub, da momentan vieles neu gedacht werden muss. Für unsere Bautätigkeiten heißt das, dass wir Zusammenarbeit, Kommunikation und gestalterische Entscheidungen ganz anders handhaben. Wie entwerfen wir zusammen? Wie vermitteln wir Qualitäten oder Problemstellungen, um dann gemeinsam mit anderen Planer*innen und Bauherr*innen eine Lösung zu finden, ohne dabei vor Ort beispielsweise ein Modell ansehen zu können? Dies sind wichtige Überlegungen für uns als Büro.
In einem Interview für die Plattform German-Architects argumentieren Sie, dass Sie „Interior Architecture“ nicht interessiert, wenn das Anliegen nicht in der Architektur durchskaliert werden kann, wenn es kein tiefergehendes Durchdenken der Gestaltung gibt. Wundert es Sie da, dass Sie insbesondere von Designer*innen geschätzt werden?
Mit meiner Aussage, die sich auf die Entpolitisierung des Wohnens in der Ausstellung „Home Stories. 100 Jahre, 20 visionäre Interieurs“ im Vitra Design Museum bezog, habe ich mich gegen die Eindimensionalität der Betrachtung dieses Themas gewandt. Es fehlt einfach etwas, wenn sich eine Ausstellung zum Thema Wohnen inhaltlich nicht mit Fragen der (Re-)Produktionsarbeit im häuslichen Bereich befasst und darüber hinaus einen rein eurozentrischen Einblick gewährt. Um auf Ihre Frage zu antworten: Unsere Arbeiten basieren auf dem Leitsatz „Was schlüssig ist, ist schön“. Schlüssigkeit basiert aber unserer Ansicht nach nicht auf ästhetischen Prinzipien, sondern auf Stringenz und Logik eines Entwurfs. Viele Gestalter*innen können deswegen gut mit unseren Räumen umgehen, weil sie ästhetisch nicht definiert, sondern für verschiedene Nutzungen offen sind. Dass die Verschränkung und Überlagerung von Wohn- und Arbeitsnutzung funktionieren kann und sich vieles gezwungenermaßen überlagert, erfahren gerade viele Menschen in ihrem neuen Alltag. Damit will ich die Belastungen, denen sich viele derzeit ausgesetzt sehen, nicht kleinmachen, sondern vielmehr das Potenzial aufzeigen, dass die Herausforderung Corona mit sich bringen kann.
„Wir versuchen, Bauen im Bestand über die Praktikabilität hinaus als Argument so stark zu machen, dass es von anderen aufgegriffen wird.“
Den realen Beweis, wie man Wohnen und Arbeiten mischen kann, haben Sie ja bereits mit dem Haus in der Berliner Brunnenstraße 2010 für sich selbst realisiert. „Remote workers“ und auch Homeoffice gibt es nun durch Corona verstärkt. Sie könnten zufrieden sein ...
Wir hatten bereits vor Corona Strukturen im Büro etabliert, die es uns erlaubt haben, recht schnell auf vollständig „remote“ umzustellen. Gerade weil die wechselseitige Überlagerung des Wohnens und Arbeitens schon so lange ein zentrales Thema unserer Praxis ist, liegen die Fragen für uns auf der Hand: Warum lässt sich das „home office“, die Arbeitsfläche zu Hause oder gar die gesamte Wohnung nicht von der Steuer absetzen? Warum ist die Erstellung einer Wohnung mehrwertsteuerbehaftet – die Erstellung eines Büros aber nicht? Das mag jetzt nach bürokratischen Fragen klingen, aber genau an diese systemischen, oft unhinterfragten Gegebenheiten muss man sich jetzt heranwagen. Es ist nicht damit getan abzuwarten. Wir müssen diese Fragen jetzt auf die Agenda bringen, in einer Zeit, in der sie so sinnfällig sind.
Sie sind ein politischer Architekt. In den vergangenen Jahren haben Sie über Ihre Bauprojekte hinaus, die auch mit einer politischen Agenda verknüpft sind, Filme gedreht, Magazine kuratiert und waren gemeinsam mit Markus Emde und Thomas Burlon (Brandlhuber+ Emde, Burlon) am von Muck Petzet kuratierten deutschen Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig 2012 beteiligt. Der deutsche Beitrag zur Architekturbiennale 2021 in Venedig unter dem Titel „2038", den Sie gemeinsam mit Olaf Grawert, Nikolaus Hirsch, Christopher Roth und einem großen interdisziplinären Team kuratieren, steht kurz bevor. Wie kam es zu diesem „political turn“?
Politisiert hat mich eine persönliche Erfahrung. Im Vorfeld der Abgeordnetenhauswahl 2011 wurde ein Wettbewerb zu einer temporären Kunsthalle in Berlin ausgelobt, Standort sollte der Humboldthafen sein. Wir stellten allerdings fest, dass im Humboldthain eine Bauruine schlummerte, die genau die im Wettbewerb geforderten Räume geboten hätte. Für uns war klar: Nimm doch einfach diese Bauruine, die dir gehört, liebes Land Berlin. Bevor es aber zur Entscheidung kam, wurde diese Liegenschaft für kleines Geld privatisiert. Das gab uns im Büro den Anstoß zur intensiven Auseinandersetzung mit Liegenschaftspolitik und den Stadtentwicklungsagenden der im Wahlkampf vertretenen Parteien. Die Wahlaussagen zeigten bei zahlreichen Themen und insbesondere zur Stadtentwicklung kaum programmatische Unterschiede, relevante Inhalte wurden ausgeblendet. Wir haben daraufhin das Projekt RGB 165/96/36 CMYK 14/40/80/20 gestartet. Die politische Indifferenz – versinnbildlicht durch die Mischung aller Parteifarben – haben wir in ganz Berlin plakatiert und uns außerdem in die mediale Berichterstattung eingebracht. In diesem Rahmen wurde mir bewusst, dass es mich als Gestalter elementar einschränkt, wenn in einer repräsentativen Demokratie die öffentliche Hand nicht verantwortungsvoll mit gesellschaftlichem Eigentum umgeht.
Designer*innen haben ja nicht unmittelbar wie Architekt*innen mit solchen Restriktionen zu tun. Weshalb sollten Designer*innen Ihrer Meinung nach politisch werden?
Ist denn das, was Designer*innen gestalten, weniger politisch? Das glaube ich ganz und gar nicht. Lassen Sie uns einen Blick auf die Modebranche werfen: Der Einsturz des Rana Plaza in Bangladesch 2013 hat einen – wenn auch langsamen – Wandel in der Modeindustrie angestoßen. Natürlich dauert es, bis Aspekte wie Arbeitsbedingungen und Ressourcen adäquat gehandhabt und neuen Standards angepasst werden, aber Designer*innen müssen das heute als Teil des Entwerfens mitdenken. Mittlerweile wird von verschiedenen Seiten auf Missstände aufmerksam gemacht, und Konsument*innen sehen zunehmend genauer hin. Diese Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung hat auch mit gesellschaftlichen Wertediskussionen zu tun. Politik meint hier nicht politische Repräsentanz, sondern die Vermittlung zwischen der/dem Einzelnen und der Gesellschaft. Die Gestaltung, die unsere täglichen Rahmenbedingungen ausformuliert – seien das nun Produkte oder die Interfaces, in denen wir uns bewegen –, ist gleichzeitig Abbild und Rahmenbedingung unserer gesellschaftlichen Werte. Was könnte politischer sein als deren Gestaltung?
Wenn wir nun Produkte kaufen, die langlebig sind und die keinem Marketing-Hype entsprechen, wie gehen wir als Designer*innen mit dieser – überspitzt formuliert – „Langeweile“ um?
Gerade die Langeweile ist doch designaffin! Ich glaube nicht, dass weniger Arbeit auf uns wartet, sondern andere Themen relevant sind und sein werden. Bricht man es herunter, lassen sich für mich ganz klare Kernfragen herausfiltern: Aus welchen Materialien schaffen wir Objekte, und wie gehen wir mit diesen so um, dass sie langfristig nutzbar sind? Zu welchen Bedingungen arbeiten wir? Wie gehen wir mit sozialer Gerechtigkeit und Zugänglichkeit um, auch in einem globalen Zusammenhang? Welches Kapital ermöglicht unsere Arbeit? Wir arbeiten derzeit an einer neuen Organisationsstruktur, bei der wir es uns von Beginn an zur Aufgabe machen wollen, viel genauer zu identifizieren, zu welchen Konditionen wir in Zukunft unsere Arbeit machen wollen. Der Punkt ist doch: Sind wir bereit, unsere eigenen ökonomischen Strukturen infrage zu stellen?
„Mich als Gestalter schränkt es elementar ein, wenn in einer repräsentativen Demokratie die öffentliche Hand nicht verantwortungsvoll mit gesellschaftlichem Eigentum umgeht.“
Diese Fragen kann man allerdings unter den verschärften Bedingungen in der Corona-Krise weniger stellen ...
Wieso nicht? Gerade in Zeiten des Umbruchs und der Neuausrichtung können Gestalter*innen klare Positionen formulieren.
Sie beschäftigen sich in Ihren Arbeiten stark mit dem Bodeneigentum. Wie machtvoll fühlt man sich als Architekt bei diesen Fragen?
In den letzten zehn Jahren haben sich die Baukosten um gut 20 Prozent erhöht, die Preise für Eigentumswohnungen in Berlin aber haben sich mehr als verdoppelt. Dieses Phänomen, das sich nicht nur in Berlin beobachten lässt, liegt am Bodenwert. Die Bodenwertsteigerung ist ein „leistungsloser Gewinn“, wie von Hans-Jochen Vogel beschrieben. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht gegen Gewinn, solang dieser leistungsbasiert ist, aber Dinge, die wir unbedingt zum Existieren brauchen – darunter Licht, Luft, Wasser und eben Boden – sollten keine der Spekulation unterworfenen Güter sein.
In München bauen Sie zusammen mit Muck Petzet in der Nähe des alten Flughafens Riem eine Wohnanlage mit Dachterrasse und Swimmingpool, kaskadenartigen Treppenaufgängen an der Fassade und offenen Grundrissen. Das Projekt „Hammerschmidt“ wird von Euroboden für die solvente Kreativklasse entwickelt. Weshalb bauen Sie keine Sozialwohnungen?
Die öffentliche Hand lädt uns gerne als Berater ein, aber beauftragt uns nicht. Wir beteiligen uns durchaus an ausgewählten Wettbewerben, aber wenn bereits in der Ausschreibung bis zur Fußleiste vorgeschrieben ist, wie die maximale Flächenoptimierung vollzogen werden soll, geht es offensichtlich nicht um Innovation. Ginge es darum, Konzepte zu entwickeln, die es zulassen, günstiger zu bauen und dafür mehr gemeinschaftliche Fläche zur Verfügung zu stellen, würde das für uns aufgehen. Wenn beispielsweise Räume in den öffentlichen Ausschreibungen auftauchen könnten, die über keine determinierte Funktion verfügen, gäbe es weit mehr Spielraum für Ideen, die auch Grundrisslösungen jenseits der Kernfamilie erlauben würden.
Der Claim „Reduce, Reuse, Recycle“ der Nachhaltigkeitsbewegung war der Slogan des Beitrags zur Architekturbiennale 2012. Seitdem sind acht Jahre vergangen – nicht nur die Bundesrepublik erlebt einen Bau- und einen damit verbundenen Abrissboom. Wo stehen wir in Hinblick auf verantwortungsvolles Bauen für kommende Generationen?
Was die Nachhaltigkeit angeht, sind wir sehr weit zurück in der Baubranche. Es ist weder aus ökonomischer Sicht nachhaltig, jedes Gebäude von Grund auf neu zu denken, noch werden Nachhaltigkeitsaspekte bezüglich Materialzyklen hinreichend mitgeplant. Bei jedem Neubau muss vorher mitbedacht werden, dass dieses Material in zwanzig, vielleicht dreißig Jahren wieder das Rohmaterial für die nächste Antivilla sein kann. Es gibt bereits Ansätze dazu: Wir dürften keine Komposite mehr herstellen und müssen darauf achten, dass alles wiederzerlegbar ist, was wir verbauen – und das ist erst der Anfang. In dieser Hinsicht muss sich noch vieles ändern. Wenn wir hinsichtlich des Wohnens feststellen, dass die meisten Einfamilienhäuser an der Paartrennung zugrunde gehen, sollten wir darüber nachdenken, ob sich das Wohnen nicht auch auf funktionaler Ebene zyklischer gestalten lässt.
Wie kommen wir von Ihrer Antivilla zu einer massentauglichen Auslegung?
Es steckt so viel graue Energie in einem Gebäude, dass wir uns im Umgang mit dem Bestand im Grunde energetisch viel erlauben könnten. Man muss allerdings schon etwas aus dem Bestand machen. Es muss so sexy werden, dass jede*r versteht, wie toll es ist, so ein Gebäude umzubauen. Deshalb versuchen wir, Bauen im Bestand über die Praktikabilität hinaus als Argument so stark zu machen, dass es von anderen aufgegriffen wird.
Wagen wir eine Prognose: Welche Auswirkung wird die Corona-Pandemie auf Design und Architektur haben?
Der derzeit vorherrschende Diskurs um Grundrechte, die Einschränkung persönlicher Freiheiten und Demokratie ist der Vorbote für einen Wandel unserer Gesellschaft. Es wird zunehmend klarer, dass wir eine ganz neue Ausrichtung unseres Zusammenlebens brauchen. Als Gestalter*innen sind wir nicht nur mit den Auswirkungen unseres Handelns im physischen Raum konfrontiert, sondern müssen uns auch mit Daten, Technologien und den damit verbundenen Prozessen, die unser Leben gestalten, intensiver auseinandersetzen. Wir erleben gerade eine Phase der Neuorientierung. Mir stellt sich die drängende Frage, was es bedeutet, wenn wir in Zeiten einer solch umfassenden globalen Gefährdung Politik nicht als System der Teilhabe verstehen, sondern als bloße Akzeptanz von Entscheidungen.