DDC Ehrenmitglied 2021

Der Publizist Dr. Thomas Ramge diskutiert in seiner Laudatio auf das neue Ehrenmitglied 2021 des Deutschen Designer Club: Hat Gesche Joost das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrochen?

Veröffentlicht am 23.09.2021

DDC Ehrenmitglied 2021: Prof. Dr. Gesche Joost. Bild: privat

Liebe Gesche, liebe Designerinnen und Designer,

Gutes über Gesche Joost zu sagen ist einfach. Dies in wenigen Minuten zu sagen ist schwer. Warum? In rund 15 Jahren Beobach­tung und Inter­aktion habe ich mich immer wieder ge­fragt: Hat diese Gesche mehr Zeit als wir? Kann man so viele Dinge in so vielen Rollen ge­stalten, be­wegen? So viele Kämpfe gegen Büro­kraten gewin­nen, nicht nur an­schieben, sondern auch um­setzen? Kann man an so vielen Orten und Ver­anstal­tungen schein­bar gleich­zeitig sein oder physi­kalisch gefragt: Hat Gesche das Raum-Zeit-Konti­nu­um irgend­wie durch­brochen mit einer Apparatur, in der Licht­geschwin­dig­keit eine Rolle spielt, aus ihrem FabLab unten in der Uni­versi­tät der Künste, die Gesche dann zusätzlich Zeit verschafft?

Mit dem PowerGrasp-Projekt hat Gesche Joost mit ihrem Design Research Lab ein tragbares soft-robotisches Assistenzsystem entwickelt. Bild: Katrin Greiner

First Principles der Physik zu durch­brechen, traue ich selbst dir nicht zu. Wenn du nicht mehr Zeit hast als wir, muss es eine Frage einer anderen physi­kalischen Größe sein. Da habe ich einen Ver­dacht. Unter den vielen positiven Eigen­schaften, die ich mit dir ver­binde, ist die viel­leicht auf­fälligste: Energie. Jeden Vor­trag, jede Panel­diskus­sion, jedes Interview und Ge­spräch, jedes Meeting im Forschungs­kontext, selbst wenn es um admin­istra­tive Fragen geht, ist voller Ener­­gie: Und zwar positiver Ener­gie, die den Raum öffnet für Kon­struktion, also Gestal­tung – die Kern­kompe­tenz der Designer­innen und Designer.

Positive Energie, die den Raum öffnet für Kon­struk­tion, also Gestal­tung – die Kernkompe­tenz der Designer­innen und Designer.

Woher kommt diese Ener­gie? Meine Vermut­ung: Auch hier keine Appara­tur aus dem FabLab der Univer­sität der Künste Berlin, sondern ich ver­suche es mit einem psycho­logischen Deutungs­moment. Du bist wirklich opti­mis­tisch, dass sich die Dinge noch ver­än­dern lassen. Und du tust nicht nur so als ob. Warum betone ich das so? In der Rolle als Journa­list und Mode­rator inter­viewe ich viele Menschen in wichtigen Rollen. Solange das Mikro an ist, solange im Modus des Zitier­baren, er­zählen sie alle, wie sie daran glauben, dass ihre Organi­sation, ihr Sektor oder Deutsch­land oder Europa oder die ganze Welt voran­kommen.

Das MYOW-System ermöglicht DIY-Makers, professionelle Wearables zu entwickeln. Bild: Katrin Greiner

Eigentlich interes­sant ist, was passiert, wenn das Mikro aus und man von der Bühne runter ist, ge­geben­en­falls noch zwei Gläser Wein ge­trun­ken hat. Dann zeigt sich, dass dieser Opti­mis­mus davor oft reine Fas­sade ist. Viele der Schein­opti­misten er­gießen sich dann in ellen­langen Aus­führ­ungen, wer sie wieder wie aus­ge­bremst hat, und warum es ja doch alles nix werden kann mit der Ver­bes­serung im Kleinen, Mittleren und Großen. Ich hatte auch mit Gesche oft die Situ­ation, dass ein Mikro aus­ging, man wieder von der Bühne runter war, klar ist, jetzt liegt der Notiz­block bei­seite. Gesche wird dann oft noch opti­mis­tischer. Noch kämpfer­ischer für ihre Sache. Räumt die Zweifel von Zweifel­nden (zu denen ich berufs­bedingt auch gehöre) mit noch mehr Energie UND fun­dierter Argumen­tation beiseite.

Der Philosoph Ernst Bloch hat die Formu­lierung „Die kon­struktive Kraft der kon­kreten Utopie” geprägt. Dürfte ich diese For­mulierung in meinem er­weiterten beruflichen Um­feld nur einer Person zu­ordnen, dann wäre es Gesche Joost. Wer mit Gesche Zeit ver­bringt weiß: Pessi­mismus ist Zeit­ver­schwen­dung und setzt negative kollek­tive Spiral­dynamiken in Gang. Warum? Weil Pessi­mis­mus an­steckend ist. Opti­mis­mus, der echte und nicht der ge­heuchelte, ist viel­leicht noch an­steckender.

Liebe Gesche, stecke bitte weiter viele Menschen mit deinem Ge­staltungs­willen an, der sich aus einer ‚kon­struk­tiven Kraft der kon­kreten Utopie’ speist.

Jede erfolgreiche soziale Be­wegung der Geschichte weiß: Opti­mis­mus kann zur selbst­er­füllen­den Prophe­zeiung werden. Weil echte Opti­misten an ein Ziel, an eine positive Ver­änder­ung, an die Gestalt­bar­keit von Prozes­sen und Sys­temen glauben, gestal­ten sie Prozesse und Sys­teme um, bewir­ken positive Verän­derung und erreichen ihr Ziel.

Wie können Gruppen stärker in Stadtentwicklungsprozesse eingebunden werden, fragten sich Gesche Joost und Team mit dem Projekt Interpart. Bild: Katrin Greiner

Wir brauchen in der Wissen­schaft, Unter­nehmen und Zivil­gesell­schaft mehr Menschen, die wirklich optimis­tisch sind. Liebe Gesche, stecke bitte weiter viele Menschen mit deinem Ge­staltungs­willen an, der sich aus einer „kon­struktiven Kraft der kon­kreten Utopie” speist. Auf den vielen Feldern und in den vielen Rollen, in denen du wirkst.

Den Helden der Ver­hinderungs­logik, den Pessi­mistinnen, mit denen du, wie ich weiß auch oft zu tun hast, die seien gewarnt. Den Riss im Raum-Zeit-Kontinu­um wird auch Gesche nicht finden. Sie hat nicht mehr Zeit als wir. Aber für alle Kämpfe gegen die Behar­rungs­kräfte der Nicht-Gestaltung hat Gesche Joost mehr positive Energie, als sich die Verhin­derer über­haupt vor­stellen können.

Liebe Gesche, herzlichen Glück­wunsch zu diesem Preis.

Prof. Dr. Gesche Joost ist Ehrenmitglied des DDC 2021

Gesche Joost (*1974) lehrt seit 2011 an der Uni­versi­tät der Künste Berlin. Sie ist Leiter­in des Design Research Lab und arbeitet an den Schnitt­stellen zwischen Wissen­schaft, Politik und Digital­unter­nehmen. In ihrer Arbeit geht es um die digitale Trans­forma­tion in Gesell­schaft und Wirt­schaft. Studiert hat Gesche Joost an der Köln Inter­natio­nal School of Design, in ihrer Pro­mo­tion beschäf­tigte sie sich mit den Grund­zügen der Film­rhetorik. Am Deutschen For­schungs­zentrum für Künst­liche Intelli­genz gestaltet sie dazu neue Formen der Mensch-Technik-Inter­aktion. Sie ist Mit­glied in den Auf­sichts­räten von SAP, ING Deutsch­land und ottobock und hat 2016 das gemein­nützige Startup Calliope gGmbH mit­ge­gründet, das Kindern ab der Grund­schule digitale Bildung eröffnet.

2006 wurde sie als einer der „100 Köpfe von morgen“ im Rahmen der Initiative der Bundes­regierung „Deutschland – Land der Ideen“ aus­ge­zeichnet, 2009 erhielt sie den Nach­wuchs-Wissen­schafts­preis des Regierenden Bürger­meisters von Berlin. Sie ist Vorstands­mitglied der Studien­stiftung des deutschen Volkes.

„Gesche Joost verfügt als Vor­denkerin und Gestal­terin der digitalen Trans­formation über eine eigen­ständige ganz­heit­liche Perspektive auf das Thema Gestal­tung und verortet die Rolle von Design in der Gesell­schaft neu. Damit etabliert sie einen Design­begriff, der über Ästhetik und Form­gebung weit hinaus­geht”, sagt Bettina Knoth, Sprecherin des DDC Vorstands.

Gesche Joost führt als DDC Ehrenmitglied die Reihe herausragender Gestalter*innen wie Dieter Rams, Ben Oyne, Jil Sander, Bazon Brock, Mike Meiré, Farah Ebrahimi und Philipp Mainzer, Stefan Diez, Anette Lenz und Arno Brandlhuber fort.

Thomas Ramge nutzt wechselnd generische Genderformen,
was sich von der Gender-Schreibweise des DDC mit * unterscheidet