DDC Ehrenmitglied 2019

Arno Brandlhuber, Jahrgang 1964, ist ein Architekt, der auch mit Worten baut. Vielleicht fühlt sich ARCH+ als Zeitschrift ihm auch deshalb verbunden. In unseren Arbeiten geht es schließlich darum, eine neue Vorstellungsorientierung zu schaffen, sei es nun mit Gebautem, mit Publikationen, Filmen oder Ausstellungen.

Veröffentlicht am 09.01.2020

Bild © Noshe

Für diejenigen unter Ihnen, die mit Arno Brandlhuber nicht so vertraut sind, möchte ich nur kurz seine Vita erwähnen: Er studierte Architektur an der Technischen Hochschule Darmstadt und der Accademia di Belle Arti in Florenz. Mit Bernd Kniess gründete er in Köln das bekannte Büro b & k +, wobei das + für offene, wechselnde Projektpartnerschaften steht. Nach der Auflösung von b & k + verlagerte Brandlhuber seinen Arbeits- und Lebensmittelpunkt nach Berlin, wo er ein neues Büro gründete: Brandlhuber +. Wenn im Folgenden von Brandlhuber die Rede ist, so ist damit stets der Brandlhuber-Komplex gemeint, das heißt die offenen Partnerschaften und Kooperationen, die im Büronamen mit dem +-Zeichen zum Ausdruck kommen. Arno Brandlhuber ist aber auch Hochschullehrer. Von 2003 bis 2016 hatte er den Lehrstuhl für Architektur- und Stadtforschung an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg inne. Seit 2017 lehrt und forscht Arno Brandlhuber am Departement Architektur der ETH Zürich, wo er mit Hilfe neuer Medien und Technologien die zukünftige Entwicklung von Architektur untersucht.

Antivilla in Potsdam von Brandhuber+ Emde, Burlon, Bild © Erika Overmeer

Arno Brandlhuber und ich kamen ungefähr zur gleichen Zeit nach Berlin und fanden eine diskursiv verheerte Stadt vor. Als ich 2004 zur ARCH+ nach Berlin ging, erwachte die Stadt erst langsam aus der sedierenden Ära des Senatsbaudirektors Hans Stimmann, der für eine konservative Architektur- und Stadt­entwicklungs­politik stand. Ich war daher höchst erfreut, als Brandlhuber 2006 ebenfalls nach Berlin zog, verkörpert er doch wie kein zweiter Architekt in Deutschland, dass man gute Architektur machen und gleichzeitig theoretisch und politisch produktiv sein kann. Seitdem haben wir nicht nur viele seine Projekte in ARCH+ vorgestellt, sondern auch mit ihm eine Reihe von Heften gemacht. Das liegt sicherlich unter anderem daran, dass er wie die ARCH+ Architektur als politisches Medium begreift. „Architektur ist das Ordnen von sozialen Beziehungen durch Gebautes.“ So lautet die prägnante Definition, die der Philosoph Christian Posthofen im Rahmen der von Brandlhuber initiierten Akademie c/o zur Raum­produktion der Berliner Republik entwickelt hat und auf die Brandlhuber seitdem immer wieder rekurriert.

„Gute Architektur machen und gleichzeitig theoretisch und politisch produktiv sein.“

Im Folgenden möchte ich anhand zweier Projekte seine Architektur­praxis reflektieren, um anlässlich der Verleihung der DDC-Ehren­mitgliedschaft an Arno Brandlhuber zu ergründen, welche Rolle Architektur und Design heute haben könnten.

Beginnen wir mit der Brunn­enstraße, einem Bau, den Brandlhuber 2007 bis 2010 für sich als Wohn- und Arbeitsort realisiert hat. Mit diesem Projekt hat er praktisch über Nacht Berlin aus dem Dornröschen­schlaf geweckt. Die Medien­resonanz war außergewöhnlich. Wie konnte jedoch ein bescheidenes Haus in einer der unzähligen Bau­lücken Berlins ein solches Medien­echo auslösen? Die unge­wöhnlich breite Rezeption, die das Wohn- und Atelierhaus in der Brunnen­straße erfahren hat, verweist darauf, dass es hier nicht in erster Linie um ein Qualitäts­urteil geht, um die Frage, ob es „gute“ oder „schlechte“ Architektur sei. Vielmehr basiert der Erfolg des Gebäudes darauf, in einem spezifischen Moment der markt­konformen Berliner Stadt­entwick­lung auf unterschiedlichen Ebenen Handlungs­perspektiven eröffnet zu haben. Es zeigte einen Ausweg aus den ideologisch verhärteten Fronten der Stimmann-Ära – jenseits der Retro-Ästhetik der sogenannten Berlinischen Architektur und dem damit verbundenen konservativen Gesellschaftsbild.

Bereits in diesem ersten Berliner Projekt ging es Brandlhuber um die Rück­eroberung von Gestaltungsräumen für eine städtische Architektur. Mit reduzierten Standards und einer Programm­mischung, die Wohnen und Arbeiten wieder zusammendenkt. Das Konzept bestand darin, eine Investorenruine in Berlin-Mitte, deren Kellergeschoss jahrelang halbfertig vor sich hin rottete, in einen „bewohnbaren Rohbau“ zu verwandeln. Die Anpassungsfähigkeit des Baus wird durch roh belassene Oberflächen und offen verlegte Leitungen gewährleistet und lesbar gemacht; die Fassade aus Polycarbonatplatten wird als „Minimalausstattung“ verstanden, die die Nutzer nach Wunsch verändern und upgraden können.

Atelier- und Wohngebäude in der Brunnenstraße, Berlin, von Brandlhuber+ ERA, Emde, Schneider , Bild © Erika Overmeer

Ein wichtiges Element ist die außen­liegende Erschließung, ein wiederkehrendes Motiv in Brandl­hubers Projekten. Sie ermöglicht größt­mögliche Flexi­bilität im Inneren. Die Grund­risse sind nicht funktional fest­gelegt und ermöglichen die Nutzung als Atelier-, Arbeits- und Wohnräume. In diesem Gebäude kommt Brandlhubers Suche nach hetero­genen städtischen Situationen zum Ausdruck.

In diesem Sinne haben wir die Berliner Projekte von Arno Brandlhuber in ARCH+ stets als Ver­suche diskutiert, eine heterogene Mischung des städtischen Programms zu ermöglichen. Verein­facht gesagt, drehen sich die meisten Projekte des Büros um zwei Kern­fragen: Wie lässt sich Wohnen und Arbeiten mischen? Wie viel Differenz lässt die Architektur im Kontext der Stadt zu? Brandlhuber nähert sich den Fragen nicht nur im Diskurs, wie es eine Vielzahl von diskursiven und künstler­ischen Projekten belegen. Das Büro sucht auch auf dem ureigenen Feld der Architektur nach typo­logischen Lösungen, die Heterogenität zulassen. Interessanter­weise nimmt die Außen­er­schließ­ung dabei eine zentrale Rolle ein. Sie wird zur Bestimmungs­größe für Fragen der Zu­gäng­lich­keit und sozialen Interaktion. Und sie ist das Rück­kopplungs­element zwischen dem architek­tonischen und dem urbanen System.

Die urbane Qualität Archi­tektur besteht darin, die programmatische Offen­heit der zeit­genössischen Stadt wider­zuspiegeln. Brandlhuber bedient sich dabei vornehmlich eines Beschreibungs­modells, das die Situation plötzlich anders erlebbar, beschreibbar und operativ macht: eine Vorstellungs­orientierung, die einen neuen Horizont eröffnet. (Siehe Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo: „Von der ‚Stadt der Teile‘ zur Stadt der Teilhabe“, in: n.b.k. Ausstellungen Bd 14: Brandlhuber+, hrsg. v. Marius Babias, Berlin 2013)

„Typologische Lösungen, die Heterogenität zulassen.“

Damit komme ich zum letzten Projekt, das ich in meiner kurzen Würdigung an­sprechen möchte: das Terrassenhaus, das Brandlhuber+ Emde, Burlon mit Muck Petzet 2014 bis 2018 in Berlin gebaut haben.

Auch hier geht es um das Grund­thema, das Brandlhuber seit jeher beschäftigt: Die Über­windung der modernen Trennung von Wohnen und Arbeiten. An dieser Stelle setzt der Entwurf des Terrassen­hauses an. Mit der Typologie schreibt Brandlhuber der Gebäude­struktur selbst eine Nutzungs­mischung ein. In den oberen Geschossen hat das Gebäude Grundriss­tiefen von ca. 10 Metern, weiter unten bis 26 Metern. Jede Einheit ist durch­gesteckt und hat eine zweiseitige Belichtung und Belüftung. Ab einer be­stimmten Tiefe steigt der Arbeits­anteil automatisch, weil es in der inneren Zone für eine Wohn­nutzung zu dunkel ist. Bei Gewerbe­räumen gibt es lediglich die An­forder­ung, dass jeder Arbeits­platz eine Sicht­beziehung nach außen haben muss und die Räume nicht direkt belichtet werden müssen: „Auf diese Weise garantiert die Gebäude­struktur, dass diese Mischung immer bestehen bleibt, es wird niemals zu einem reinen Wohn- oder Pro­duktions­­gebäude werden. Es sperrt sich gegen eine homogene Verein­nahmung.“ (Arno Brandlhuber im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo, in: ARCH+ features 78 Eine neue Ethik des Heterogenen)

Allerdings ist der Raum nicht nur öffentlich, in dieser Öffent­lichkeit gibt es gleich­zeitig intime Momente. Wir haben es bei den Außen­räumen weder mit einem Balkon noch mit einem Platz oder einer Straße im her­kömml­ichen Sinne zu tun. Die Leistungs­fähigkeit des Gebäudes wurde deutlich, als ARCH+ anlässlich der Fertig­stellung eine Veranstaltung durchführte, bei der sich über 500 Personen auf den Terrassen ver­sammel­ten. Wir haben eine urbane Qualität von Architektur erlebt, von der wir immer­zu reden, die bisher aber kaum eingelöst wurde. Das Terrassen­haus ist eine Architektur der Versammlung. Man schaut von unten oder von oben kaskadenartig hinauf oder hinunter, und auch wer ganz unten oder ganz oben steht, ist Teil der Masse, ohne aktiv teilnehmen zu müssen.

Terrassenhaus von Brandlhuber+ Emde, Burlon und Muck Petzet Architekten, Bild © Erika Overmeer

Es geht beim Begriff der Hetero­genität darum, dass vieles in ihren klaren Konturierungen möglich ist und dass man sowohl das eine als auch das andere machen kann. Die architektonische Form kann unter­schied­liche Dinge neben­einander und nach­einander ermöglichen. Mit einem Begriff aus der Design­theorie könnte man hier von der Affordanz der Gebäude­struktur sprechen, die viele Nutzungs­szenarien anbietet. Die Elemente sind nicht funktional eindeutig festgelegt. Damit komme ich zur letzten und entscheidenden Frage, in die ich Architektur und Design mit einschließen möchte: Was ist die Rolle von Gestaltung heute?

„In einer Zeit, in der Design alle Lebens­bereiche durchdringt und als Strategie der umfassenden Ästheti­sierung und Subjektivierung von Herr­schaft dient, stellt sich heute die Frage, ob nicht im all­gegen­wärtigen Überfluss von Design möglicherweise dessen Abwesen­heit ein befreiendes Moment wäre.“ So lautete eine der Kern­fragen des „projekt bauhaus“, das ARCH+ anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bauhaus mitinitiiert hat.

Was bedeutet das konkret für die Praxis? Auf Brandlhubers Arbeit bezogen hieße das, Gestaltung nicht im Sinne der Bild­produktion zu begreifen, sondern als die Schaffung von Argumenten (Vgl. Architektur als Argument, Arno Brandlhuber und Olaf Grawert im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert, in: ARCH+ 237 Nikolaus Kuhnert – Eine architek­tonische Selbst­biografie, Dezember 2019). Denn im Grunde müssen wir feststellen, dass auf der bildlichen Ebene die progressive Seite seit geraumer Zeit in der Defensive ist. Die Retro-Fraktion hat bei der Argumen­tation mit Bildern die Ober­­hand gewonnen. Architekten und auch Designer können nur wieder in die Offensive kommen, wenn sie ihre Arbeit auf die Zukunft und den damit verbundenen Entwurfs­horizont ausrichten. Sie müssen Lebensmodelle aufzeigen, die Anknüpfungs­punkte für die alltäglichen Fragen der Menschen bieten. Zum Beispiel, wie wir arbeiten und wohnen wollen und auch, welche Gebrauchs­gegen­stände, welche Möbel diese neuen Wohn- und Arbeits­formen unterstützen.

„Konkrete, in der Gegenwart verortete und aneignungs­offene Lebensräume.“

Man könnte einwenden, ob wir da nicht automatisch wieder bei den berüchtigten Zukunfts­visionen der Moderne landen. Eben nicht. Es geht hier nicht um abgehobene Zukunfts­vorstellungen, die so nie eintreten werden. Es geht vielmehr um reale Lebens­entwürfe, die nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Not­wendigkeit der Veränderung des Status quo aufzeigen. Sie müssen aber auch für Nicht-Fachleute verständlich sein. So wie beim Terrassen­haus von Arno Brandlhuber. Dort werden sehr grundsätzliche Fragen verhandelt, ohne dass diese im Vorder­­grund stehen, Fragen von Privat­heit und Öffent­­lich­keit, von Wohnen und Arbeiten, vom Selbst­­ver­ständnis der Stadt­­gesell­schaft insgesamt. Das spürt man sofort, wenn man die Außen­treppen hinaufgeht und mit diesem Raum konfrontiert wird und sich fragt: Was ist denn das für ein Ort? Warum ist die Terrasse so groß? Wer darf da hin? Das meine ich, wenn ich von Entwurfs­horizont spreche.

Es geht letztlich um konkrete, in der Gegenwart verortete Lebens­räume, die aneignungs­offen sind, die aber zugleich einen Raum aufmachen, der in die Zukunft verweist. Wir müssen also die Prämissen umkehren. Es geht nicht um das fixierte Bild eines Ideals, das wir sowieso nie erreichen werden. Statt­dessen müssen wir von der Gegen­wart, in der wir leben, ausgehen und sie so präparieren, dass wir im Alltag so handeln, als wären wir bereits in der Zukunft. Das ist die Aufgabe eines progressiven Designs.

 

 

Ein Interview mit Arno Brandlhuber findet ihr im Magazin auf dieser Seite.

Anh-Linh Ngo (* 1974)

Anh-Linh Ngo ist Architekt, Autor und Mitherausgeber von ARCH+. Er ist Mitbegründer der inter­nationalen Initiative projekt bauhaus, die sich von 2015–19 mit Symposien, Workshops, Pop-up-Ausstellungen und einer Performance kritisch mit den Ideen des Bauhaus auseinandersetzt. Er war Mitglied des Kunstbeirats des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) (2010–16), für das er 2009 die Wanderausstellung Post-Oil City entwickelte. 2018 hatte die von ihm mitinitiierte und -kuratierte ifa-Ausstellung An Atlas of Commoning: Orte des Gemein¬schaffens in Berlin Premiere und tourt seitdem für 10 Jahre weltweit. Er ist Kuratoriumsmitglied der IBA 2027 StadtRegion Stuttgart.

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