DDC Ehrenmitglied 2019
Arno Brandlhuber, Jahrgang 1964, ist ein Architekt, der auch mit Worten baut. Vielleicht fühlt sich ARCH+ als Zeitschrift ihm auch deshalb verbunden. In unseren Arbeiten geht es schließlich darum, eine neue Vorstellungsorientierung zu schaffen, sei es nun mit Gebautem, mit Publikationen, Filmen oder Ausstellungen.
Für diejenigen unter Ihnen, die mit Arno Brandlhuber nicht so vertraut sind, möchte ich nur kurz seine Vita erwähnen: Er studierte Architektur an der Technischen Hochschule Darmstadt und der Accademia di Belle Arti in Florenz. Mit Bernd Kniess gründete er in Köln das bekannte Büro b & k +, wobei das + für offene, wechselnde Projektpartnerschaften steht. Nach der Auflösung von b & k + verlagerte Brandlhuber seinen Arbeits- und Lebensmittelpunkt nach Berlin, wo er ein neues Büro gründete: Brandlhuber +. Wenn im Folgenden von Brandlhuber die Rede ist, so ist damit stets der Brandlhuber-Komplex gemeint, das heißt die offenen Partnerschaften und Kooperationen, die im Büronamen mit dem +-Zeichen zum Ausdruck kommen. Arno Brandlhuber ist aber auch Hochschullehrer. Von 2003 bis 2016 hatte er den Lehrstuhl für Architektur- und Stadtforschung an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg inne. Seit 2017 lehrt und forscht Arno Brandlhuber am Departement Architektur der ETH Zürich, wo er mit Hilfe neuer Medien und Technologien die zukünftige Entwicklung von Architektur untersucht.
Arno Brandlhuber und ich kamen ungefähr zur gleichen Zeit nach Berlin und fanden eine diskursiv verheerte Stadt vor. Als ich 2004 zur ARCH+ nach Berlin ging, erwachte die Stadt erst langsam aus der sedierenden Ära des Senatsbaudirektors Hans Stimmann, der für eine konservative Architektur- und Stadtentwicklungspolitik stand. Ich war daher höchst erfreut, als Brandlhuber 2006 ebenfalls nach Berlin zog, verkörpert er doch wie kein zweiter Architekt in Deutschland, dass man gute Architektur machen und gleichzeitig theoretisch und politisch produktiv sein kann. Seitdem haben wir nicht nur viele seine Projekte in ARCH+ vorgestellt, sondern auch mit ihm eine Reihe von Heften gemacht. Das liegt sicherlich unter anderem daran, dass er wie die ARCH+ Architektur als politisches Medium begreift. „Architektur ist das Ordnen von sozialen Beziehungen durch Gebautes.“ So lautet die prägnante Definition, die der Philosoph Christian Posthofen im Rahmen der von Brandlhuber initiierten Akademie c/o zur Raumproduktion der Berliner Republik entwickelt hat und auf die Brandlhuber seitdem immer wieder rekurriert.
„Gute Architektur machen und gleichzeitig theoretisch und politisch produktiv sein.“
Im Folgenden möchte ich anhand zweier Projekte seine Architekturpraxis reflektieren, um anlässlich der Verleihung der DDC-Ehrenmitgliedschaft an Arno Brandlhuber zu ergründen, welche Rolle Architektur und Design heute haben könnten.
Beginnen wir mit der Brunnenstraße, einem Bau, den Brandlhuber 2007 bis 2010 für sich als Wohn- und Arbeitsort realisiert hat. Mit diesem Projekt hat er praktisch über Nacht Berlin aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Die Medienresonanz war außergewöhnlich. Wie konnte jedoch ein bescheidenes Haus in einer der unzähligen Baulücken Berlins ein solches Medienecho auslösen? Die ungewöhnlich breite Rezeption, die das Wohn- und Atelierhaus in der Brunnenstraße erfahren hat, verweist darauf, dass es hier nicht in erster Linie um ein Qualitätsurteil geht, um die Frage, ob es „gute“ oder „schlechte“ Architektur sei. Vielmehr basiert der Erfolg des Gebäudes darauf, in einem spezifischen Moment der marktkonformen Berliner Stadtentwicklung auf unterschiedlichen Ebenen Handlungsperspektiven eröffnet zu haben. Es zeigte einen Ausweg aus den ideologisch verhärteten Fronten der Stimmann-Ära – jenseits der Retro-Ästhetik der sogenannten Berlinischen Architektur und dem damit verbundenen konservativen Gesellschaftsbild.
Bereits in diesem ersten Berliner Projekt ging es Brandlhuber um die Rückeroberung von Gestaltungsräumen für eine städtische Architektur. Mit reduzierten Standards und einer Programmmischung, die Wohnen und Arbeiten wieder zusammendenkt. Das Konzept bestand darin, eine Investorenruine in Berlin-Mitte, deren Kellergeschoss jahrelang halbfertig vor sich hin rottete, in einen „bewohnbaren Rohbau“ zu verwandeln. Die Anpassungsfähigkeit des Baus wird durch roh belassene Oberflächen und offen verlegte Leitungen gewährleistet und lesbar gemacht; die Fassade aus Polycarbonatplatten wird als „Minimalausstattung“ verstanden, die die Nutzer nach Wunsch verändern und upgraden können.
Ein wichtiges Element ist die außenliegende Erschließung, ein wiederkehrendes Motiv in Brandlhubers Projekten. Sie ermöglicht größtmögliche Flexibilität im Inneren. Die Grundrisse sind nicht funktional festgelegt und ermöglichen die Nutzung als Atelier-, Arbeits- und Wohnräume. In diesem Gebäude kommt Brandlhubers Suche nach heterogenen städtischen Situationen zum Ausdruck.
In diesem Sinne haben wir die Berliner Projekte von Arno Brandlhuber in ARCH+ stets als Versuche diskutiert, eine heterogene Mischung des städtischen Programms zu ermöglichen. Vereinfacht gesagt, drehen sich die meisten Projekte des Büros um zwei Kernfragen: Wie lässt sich Wohnen und Arbeiten mischen? Wie viel Differenz lässt die Architektur im Kontext der Stadt zu? Brandlhuber nähert sich den Fragen nicht nur im Diskurs, wie es eine Vielzahl von diskursiven und künstlerischen Projekten belegen. Das Büro sucht auch auf dem ureigenen Feld der Architektur nach typologischen Lösungen, die Heterogenität zulassen. Interessanterweise nimmt die Außenerschließung dabei eine zentrale Rolle ein. Sie wird zur Bestimmungsgröße für Fragen der Zugänglichkeit und sozialen Interaktion. Und sie ist das Rückkopplungselement zwischen dem architektonischen und dem urbanen System.
Die urbane Qualität Architektur besteht darin, die programmatische Offenheit der zeitgenössischen Stadt widerzuspiegeln. Brandlhuber bedient sich dabei vornehmlich eines Beschreibungsmodells, das die Situation plötzlich anders erlebbar, beschreibbar und operativ macht: eine Vorstellungsorientierung, die einen neuen Horizont eröffnet. (Siehe Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo: „Von der ‚Stadt der Teile‘ zur Stadt der Teilhabe“, in: n.b.k. Ausstellungen Bd 14: Brandlhuber+, hrsg. v. Marius Babias, Berlin 2013)
„Typologische Lösungen, die Heterogenität zulassen.“
Damit komme ich zum letzten Projekt, das ich in meiner kurzen Würdigung ansprechen möchte: das Terrassenhaus, das Brandlhuber+ Emde, Burlon mit Muck Petzet 2014 bis 2018 in Berlin gebaut haben.
Auch hier geht es um das Grundthema, das Brandlhuber seit jeher beschäftigt: Die Überwindung der modernen Trennung von Wohnen und Arbeiten. An dieser Stelle setzt der Entwurf des Terrassenhauses an. Mit der Typologie schreibt Brandlhuber der Gebäudestruktur selbst eine Nutzungsmischung ein. In den oberen Geschossen hat das Gebäude Grundrisstiefen von ca. 10 Metern, weiter unten bis 26 Metern. Jede Einheit ist durchgesteckt und hat eine zweiseitige Belichtung und Belüftung. Ab einer bestimmten Tiefe steigt der Arbeitsanteil automatisch, weil es in der inneren Zone für eine Wohnnutzung zu dunkel ist. Bei Gewerberäumen gibt es lediglich die Anforderung, dass jeder Arbeitsplatz eine Sichtbeziehung nach außen haben muss und die Räume nicht direkt belichtet werden müssen: „Auf diese Weise garantiert die Gebäudestruktur, dass diese Mischung immer bestehen bleibt, es wird niemals zu einem reinen Wohn- oder Produktionsgebäude werden. Es sperrt sich gegen eine homogene Vereinnahmung.“ (Arno Brandlhuber im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo, in: ARCH+ features 78 Eine neue Ethik des Heterogenen)
Allerdings ist der Raum nicht nur öffentlich, in dieser Öffentlichkeit gibt es gleichzeitig intime Momente. Wir haben es bei den Außenräumen weder mit einem Balkon noch mit einem Platz oder einer Straße im herkömmlichen Sinne zu tun. Die Leistungsfähigkeit des Gebäudes wurde deutlich, als ARCH+ anlässlich der Fertigstellung eine Veranstaltung durchführte, bei der sich über 500 Personen auf den Terrassen versammelten. Wir haben eine urbane Qualität von Architektur erlebt, von der wir immerzu reden, die bisher aber kaum eingelöst wurde. Das Terrassenhaus ist eine Architektur der Versammlung. Man schaut von unten oder von oben kaskadenartig hinauf oder hinunter, und auch wer ganz unten oder ganz oben steht, ist Teil der Masse, ohne aktiv teilnehmen zu müssen.
Es geht beim Begriff der Heterogenität darum, dass vieles in ihren klaren Konturierungen möglich ist und dass man sowohl das eine als auch das andere machen kann. Die architektonische Form kann unterschiedliche Dinge nebeneinander und nacheinander ermöglichen. Mit einem Begriff aus der Designtheorie könnte man hier von der Affordanz der Gebäudestruktur sprechen, die viele Nutzungsszenarien anbietet. Die Elemente sind nicht funktional eindeutig festgelegt. Damit komme ich zur letzten und entscheidenden Frage, in die ich Architektur und Design mit einschließen möchte: Was ist die Rolle von Gestaltung heute?
„In einer Zeit, in der Design alle Lebensbereiche durchdringt und als Strategie der umfassenden Ästhetisierung und Subjektivierung von Herrschaft dient, stellt sich heute die Frage, ob nicht im allgegenwärtigen Überfluss von Design möglicherweise dessen Abwesenheit ein befreiendes Moment wäre.“ So lautete eine der Kernfragen des „projekt bauhaus“, das ARCH+ anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bauhaus mitinitiiert hat.
Was bedeutet das konkret für die Praxis? Auf Brandlhubers Arbeit bezogen hieße das, Gestaltung nicht im Sinne der Bildproduktion zu begreifen, sondern als die Schaffung von Argumenten (Vgl. Architektur als Argument, Arno Brandlhuber und Olaf Grawert im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert, in: ARCH+ 237 Nikolaus Kuhnert – Eine architektonische Selbstbiografie, Dezember 2019). Denn im Grunde müssen wir feststellen, dass auf der bildlichen Ebene die progressive Seite seit geraumer Zeit in der Defensive ist. Die Retro-Fraktion hat bei der Argumentation mit Bildern die Oberhand gewonnen. Architekten und auch Designer können nur wieder in die Offensive kommen, wenn sie ihre Arbeit auf die Zukunft und den damit verbundenen Entwurfshorizont ausrichten. Sie müssen Lebensmodelle aufzeigen, die Anknüpfungspunkte für die alltäglichen Fragen der Menschen bieten. Zum Beispiel, wie wir arbeiten und wohnen wollen und auch, welche Gebrauchsgegenstände, welche Möbel diese neuen Wohn- und Arbeitsformen unterstützen.
„Konkrete, in der Gegenwart verortete und aneignungsoffene Lebensräume.“
Man könnte einwenden, ob wir da nicht automatisch wieder bei den berüchtigten Zukunftsvisionen der Moderne landen. Eben nicht. Es geht hier nicht um abgehobene Zukunftsvorstellungen, die so nie eintreten werden. Es geht vielmehr um reale Lebensentwürfe, die nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit der Veränderung des Status quo aufzeigen. Sie müssen aber auch für Nicht-Fachleute verständlich sein. So wie beim Terrassenhaus von Arno Brandlhuber. Dort werden sehr grundsätzliche Fragen verhandelt, ohne dass diese im Vordergrund stehen, Fragen von Privatheit und Öffentlichkeit, von Wohnen und Arbeiten, vom Selbstverständnis der Stadtgesellschaft insgesamt. Das spürt man sofort, wenn man die Außentreppen hinaufgeht und mit diesem Raum konfrontiert wird und sich fragt: Was ist denn das für ein Ort? Warum ist die Terrasse so groß? Wer darf da hin? Das meine ich, wenn ich von Entwurfshorizont spreche.
Es geht letztlich um konkrete, in der Gegenwart verortete Lebensräume, die aneignungsoffen sind, die aber zugleich einen Raum aufmachen, der in die Zukunft verweist. Wir müssen also die Prämissen umkehren. Es geht nicht um das fixierte Bild eines Ideals, das wir sowieso nie erreichen werden. Stattdessen müssen wir von der Gegenwart, in der wir leben, ausgehen und sie so präparieren, dass wir im Alltag so handeln, als wären wir bereits in der Zukunft. Das ist die Aufgabe eines progressiven Designs.