INTERVIEW
Die Architektin und Designerin Eileen Gray baute eine moderne Villa an der Côte d’Azur für sich und ihren Lebensgefährten. Später übermalte Le Corbusier die Wände von „E.1027“ – ein Akt männlicher Dominanz. Drehbuchautorin und Regisseurin Beatrice Minger im Gespräch mit Judith Augustin (DDC) über ihren Film „E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“.
Judith Augustin: Deinen neuen Film widmest du der Architektin und Designerin Eileen Gray – kannst du zusammenfassen, worum es geht?
Beatrice Minger: Eileen Gray, in den 1920er-Jahren in Paris vor allem bekannt für ihr Möbeldesign, baute 1929 zusammen mit Jean Badovici an der Côte d’Azur ein Haus mit dem Namen „E.1027“. Etwas später wurde Le Corbusier, ein Freund von Badovici, darauf aufmerksam. Er war fasziniert von dem Haus. Nachdem sie es verlassen hatte überzog er die Wände mit seinen Malereien – und zerstörte damit die Wirkung der Architektur völlig. Für Eileen Gray, die das erst viel später erfuhr, waren diese Bilder nichts weniger als Vandalismus. Sie forderte, dass sie entfernt werden – was Le Corbusier ignorierte.
Das ist die Oberfläche dieser Geschichte: Ein männlicher, mächtigerer oder prominenterer Künstler überschreibt den Namen einer weniger bekannten Künstlerin. Darunter liegen aber sehr viel mehr Ebenen, die wir im Film aufgreifen. Eileen Gray war als Person und als Künstlerin so grundlegend anders als Le Corbusier, und es geht uns darum, diese Differenzen herauszuarbeiten und die Mechanismen patriarchaler Machtstrukturen im Kunstbetrieb sichtbar zu machen oder zumindest mit ihnen zu arbeiten.
Judith Augustin: Ursprünglich war die Anfrage, einen Film über Le Corbusier zu machen. Wie kam es zum Pivot?
Beatrice Minger: Der Produzent Philip Delaquis hatte die Idee mit dem Film über Le Corbusier und fragte Christoph Schaub an. Der wiederum fragte mich, ob ich dazu recherchieren würde. Da war von Anfang an so ein Fragezeichen: Le Corbusier ist sehr gut dokumentiert, immer und immer wieder gefeiert worden. Was bitte wollen wir da noch beitragen? Bei der Recherche bin ich auf dieses Haus gestoßen. Wir erkannten dann relativ schnell, dass eigentlich hier die viel spannendere Geschichte für einen Film liegt, weil in diesem Haus so viele Ebenen und Diskurse der Moderne zusammenkommen.
Judith Augustin: Du hast sowohl Regie geführt als auch das Drehbuch geschrieben, dir aber gleichzeitig die Rolle der Regisseurin mit Christoph Schaub geteilt. Was sind die Vorteile und Herausforderungen von Doppelrollen – Rollen, die man teilt und Rollen, bei denen man sich selber teilen muss?
Beatrice Minger: Das ist historisch gewachsen. Ursprünglich schrieb ich das Drehbuch für Christoph Schaub, der als Regisseur vorgesehen war. Und wir haben die ersten künstlerischen Entscheidungen zusammen getroffen. Er musste aus privaten Gründen ein wenig zurücktreten, blieb aber im Hintergrund dabei und betreute das Projekt. Für mich war klar, dass ich die Vision, die ich im Drehbuch entwickelt hatte – zunächst für einen anderen Regisseur, der vielleicht mit anderen Mitteln arbeitet – zu meinem eigenen Film machen kann.
Die Doppelrolle der Autorin und Regisseurin war also sehr organisch für mich und auch die Zusammenarbeit mit Christoph ist in neuer Form weitergegangen. Für die Umsetzung arbeiteten wir auch eng mit der Ausstatterin Nina Mader und dem Kameramann Ramón Giger zusammen. Wir experimentierten und testeten viel, entwickelten den Studioraum und mussten herausfinden, wie wir das filmen können: Was brauchen wir, um in diesem Raum mit Schauspielern zu arbeiten, sodass es mit den anderen Ebenen – dem Haus, den Archivbildern – zusammenpasst?
Judith Augustin: Dieser Raum, von dem du sprichst, ist ein ganz besonderer – der Film arbeitet mit einer hybriden Erzählweise und teilweise mit sehr szenischer Darstellung. Gab es Elemente in Eileen Grays Design, die euch beeinflussten und die das Spielerische bestärkten?
Beatrice Minger: Der Mut, die Grenzen der Realität und Imagination zu überschreiten, mit den Mitteln zu spielen, die man hat, und neue Lösungen zu finden – das hat mich sehr inspiriert. Vor allem, wenn man in das Haus „E.1027“ tritt, spürt man den Gestaltungswillen; jede Ecke ist von Eileen Gray gestaltet – mit Präzision, aber auch mit Sinn für Humor in der Architektur. Am Eingang steht zum Beispiel „entre lentement“ (langsam eintreten), und dort, wo man nicht durchgehen soll, heißt es „sans interdit“ (verbotene Richtung). Auch Schränke und Kästchen sind beschriftet. Man spürt einen großen Witz, Charme und Lust, mit dem Bewohner oder dem Menschen, der durch das Haus geht, in Kontakt zu treten. Man tritt in Beziehung mit dem Raum.
Diese spielerische Ebene war mir auch deshalb wichtig, weil Eileen Gray oft als sehr ernsthafte und diskrete Persönlichkeit wahrgenommen wird, während ich glaube, dass sie einen unglaublichen Witz und Charme hatte, den man in ihren Objekten, aber auch in ihrer Architektur spürt.
Judith Augustin: Direkt am Eingang steht „nicht lachen“. Hast du eine Idee, warum?
Beatrice Minger: Das steht unter einer Lampe, die sie designt hat, die so ein bisschen – man könnte fast sagen – phallisch aus der Wand herausragt. Aber bei Eileen Gray gibt es nie nur eine einzige Deutung der Dinge; sie inspiriert, in gewisse Richtungen zu denken, oder sie schubst einen ein bisschen an.
Judith Augustin: Hattet ihr auch in dem Studioraum original Eileen Gray-Mobiliar zur Verfügung?
Beatrice Minger: Ja, wir hatten das Glück, mit ClassiCon zusammen zu arbeiten – dort konnten wir eine Liste abgeben, mit Stücken, die wir leihen wollten. Wir haben uns sehr genau überlegt, welche Möbel wir auswählen und wie wir die Räume so gestalten, dass es kein Showroom wird. Am Ende haben wir uns für sehr wenige Objekte entschieden. Der schwarze „Brick-Screen“ ist natürlich ein unglaublich ikonografisches Stück, aber auch der „Non-Conformist Chair“, der allein schon vom Namen perfekt zu Eileen Gray passt. Das war für mich auch irgendwann ein Schlüssel, um sie besser zu verstehen: Man kann eigentlich nie von vorgefertigten Meinungen oder Ideen über Eileen Gray ausgehen. Es ist immer „non-conformist“, immer ein bisschen anders, als man am Anfang denkt oder von anderen kennt.
Judith Augustin: Erstaunlich, dass sie so non-konformistisch ist und gleichzeitig in so viele Strukturen passt. Die durch Le Corbusier formulierten „5 Punkte zu einer neuen Architektur“ zum Beispiel finden sich in „E.1027“ wieder – gleichzeitig wollte Eileen Gray weg von der Wohnmaschine Le Corbusiers und wieder hin zu einem lebendigen, atmenden Design. Auch heute wollen viele Designerinnen weg vom Dogma „form follows function“. Gibt es Parallelen dazu im Film?
Beatrice Minger: Definitiv. Die Dramaturgie von Geschichten, die Frage, wie man eine Geschichte zu erzählen hat, damit sie als Geschichte gilt, ist ja im Grunde männlich geprägt: „drei Akte, Grundkonflikt – ohne Konflikt keine Geschichte.“ Solche Sätze habe ich als Filmemacherin in meinen Projekten immer wieder gehört. Ich spüre jedoch ein starkes Bedürfnis, Geschichten anders zu erzählen. Zum Beispiel finde ich innere Konflikte wesentlich interessanter, die führen dann auch zu äußeren Konflikten, wie wir alle wissen. Aber diese Idee, dass man sich nur dann spürt, wenn man sich mit anderen reibt und im Konflikt mit anderen steht, halte ich für etwas sehr Männliches.
Ich finde es auch spannend, was du über die Designerinnen sagst, die heute Ähnliches spüren. Wir Frauen haben einen anderen Körper, wir erfahren die Welt anders, sind anders sozialisiert, wie unsere Mütter und Großmütter auch schon. Wir wollen unsere eigene Sprache sprechen, wir wollen uns mit eigenen filmischen Mitteln ausdrücken. Und ich glaube, die Zeit ist jetzt auch da, dass das möglich ist.
Bei Eileen Gray sehe ich genau das als Kern. Ihre fundamental andere Weltsicht hat Personen wie Le Corbusier irritiert. Wie du schon sagst, sie nahm die Prinzipien von Le Corbusier auf und interpretierte sie neu: Das Haus muss in Beziehung zum Menschen stehen, nicht nur als funktionale Maschine. Ihr Ansatz war eine Revolution von innen heraus, im Gegensatz zu Le Corbusiers Außenblick auf Form und Struktur.
Judith Augustin: Im Film sagt Le Corbusier: „Danach glaubten viele, ich hätte die Villa gebaut. Ich habe sie in dem Glauben gelassen.“ Der Bau wurde ihm zugeschrieben, und er hat es nicht klargestellt.
Beatrice Minger: Das war eine Art Ignoranz und Selbstverständlichkeit, sich zu nehmen, was er will und damit zu machen, was er möchte. Dazu kommt die Akzeptanz der Gesellschaft, dieser Gedanke, dass ein Genie sich auch im privaten Raum Freiheiten nehmen kann, ohne dass es Konsequenzen gibt.
Judith Augustin: Was, wenn es umgekehrt gewesen wäre: Hätte Eileen Gray Wände in einem Le Corbusier-Haus angemalt?
Beatrice Minger: Das wäre undenkbar gewesen. Es war für sie ein tiefgreifender Übergriff, den sie als Vergewaltigung ihrer Architektur betrachtete. Sie bat ihn, die bemalten Wände zu überstreichen, aber er lehnte ab und beanspruchte, dem Haus Ruhm verschafft zu haben. Ironischerweise trug genau diese Ambivalenz zur späteren Rettung und Restaurierung des Hauses bei. „E.1027“ ist heute ein Museum, die Wandbilder sind noch da, und die kleine Urlaubshütte von Le Corbu namens „Cabanon“ sowie die Bar „L’Étoile de Mer“, die er umgestaltete, natürlich auch. Es ist jetzt ein Schauplatz für genau das, worüber wir sprechen: Was ist da überhaupt passiert? Wo passiert die Grenzüberschreitung, und was ist okay und was nicht? Das ist nicht so einfach, da genau den Finger drauf zu legen.
Judith Augustin: Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit weiblicher Kreativität. Es zeigt sich wiederkehrend, dass Ideen für Frauen wesentlich riskanter sind als für Männer: Sie haben keine Lobby, müssen sich von Anfang an stärker durchsetzen, haben weniger Support bei der Umsetzung, und deshalb, wenn das Werk vollendet ist, schlussendlich keine Kapazität mehr für die Vermarktung. Das ist der Moment, in dem sie oft ihrer Ideen beraubt werden.
Nun war Eileen Gray keine Anfängerin, sie war Ende 40, eine erfahrene Designerin und auch Unternehmerin, als sie begann, „E.1027“ zu bauen. Sie war gut vernetzt in der Avantgarde, hatte sich im Austausch mit vielen Künstlerinnen ihrer Zeit einen Namen gemacht, gemeinsam mit Evelyn Wyld eine Galerie aufgebaut, die sie unter dem männlichen Namen „Jean Désert“ führte. Das berühmte Portrait von ihr stammt von Berenice Abbott, der ehemaligen Assistentin von Man Ray, die auch Coco Chanel, James Joyce, Djuna Barnes und Jean Cocteau fotografierte. Sie war also sehr gut aufgestellt. Und trotzdem ist es passiert?
Beatrice Minger: Und trotzdem ist es passiert, genau. Was du über die weibliche Kreativität gesagt hast, trifft, glaube ich, heute immer noch zu, aber natürlich war es vor fast 80 Jahren noch viel stärker der Fall. Besonders der Übertritt in die Öffentlichkeit war für Eileen Gray eine ambivalente Erfahrung. Es heißt, sie ging nie zu ihren eigenen Vernissagen, weil sie den Blick von außen, die Beurteilung und das Gefühl, ausgestellt zu sein, nicht ertragen konnte. Hinzu kommt, dass der Eintritt in die männlich dominierte Architekturwelt immer eine Reibung bedeutete.
Für Eileen Gray war es aber letztlich nicht der größte Schmerzpunkt, dass ihr Name über eine gewisse Zeit verschwand. 1968, im hohen Alter, wurde sie gefeiert, und das war ihr fast ein wenig unangenehm. Vielmehr verletzte es sie, dass ihre Vision von der Architektur auf eine so gewalttätige Weise überschrieben wurde: der Disrespect, die Missachtung dessen, was sie mit „E.1027“ erreicht hatte.
Judith Augustin: Die Figur der Eileen lacht wenig im Film, dafür ist das Letzte, was wir von der fast hundertjährigen Designerin hören, ein Lacher. Kein Groll ist zu hören.
Beatrice Minger: Der Schmerz, den sie erlebt hat, ist real, aber sie ist nicht bitter gestorben. Le Corbusier wollte in ihrer Biografie vielleicht eine größere Rolle spielen, aber sie gab ihm nicht diesen Raum. Für mich war es wichtig, dass auch der Film im Gesamtkontext nicht Le Corbusier das Gewicht gibt. Die Anhänger von Le Corbusier betrachten die Geschichte von „E.1027“ als eine Fußnote in seinem riesigen Werk, aber ich wollte zeigen, dass Le Corbusier eigentlich nur eine Fußnote in ihrem großen Werk war. Und das sollte am Schluss auch deutlich werden – diesmal gewinnt er nicht, sondern sie.
Judith Augustin: Aber das ist nicht das Ende: Du setzt noch eins drauf. Du schließt den Film mit einer Choreografie, in der Eileen Gray führt. Ein Ausblick?
Beatrice Minger: Ja, ich habe lange nach einem Schluss gesucht, der diese Leichtigkeit von Eileen Gray aufnimmt, ein Tanz, in dem jede Bewegung wiederholt wird, fast mechanisch, aber auch mit einem Ausdruck individueller Persönlichkeit. Es ist ein Hin und Her, ein rhythmisches Miteinander, das zeigt, dass wir in derselben Welt leben und daran arbeiten, und vielleicht kann man sagen, dass auch Männer darin auf gewisse Weise Opfer sind, weil wir alle unter Stereotypen leiden. Es geht darum, gemeinsam diese Strukturen aufzubrechen.
Judith Augustin: Der Designwettbewerb des DDC heißt WAS IST GUT. Wie würdest du diese Frage beantworten? Was ist gut?
Beatrice Minger: Für mich bedeutet „gut“ vor allem, sich als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen. In meiner Arbeit und in meinem Leben stelle ich immer mehr fest, wie sehr ich von äußeren Einflüssen geprägt bin – sei es durch die Umgebung, in der ich mich gerade befinde, oder durch die Erfahrungen und das Umfeld, aus dem ich komme. Diese Erkenntnis bringt mich zu einer Sichtweise, die auch Eileen Gray widerspiegelt: Sie betrachtete sich nicht nur als Designerin, sondern als jemand, der in Resonanz mit der Welt steht, als Medium, das etwas entwickelt und der Welt zurückgibt.
Für mich als Filmemacherin bedeutet „gut“, wenn ich mit meinen Arbeiten eine echte Verbindung zum Publikum herstellen kann. Es geht darum, durch meine Filme Kommunikation und Resonanz zu ermöglichen. Statt uns isoliert und als Einzelkämpfer hinter unseren Telefonen zu verstecken und konfliktuöse Auseinandersetzungen zu führen, weil wir glauben, wir könnten was retten, was uns gehört, sollten wir uns als Teil eines größeren Netzwerks sehen, in dem wir voneinander abhängig sind. „Gut“ ist für mich daher das Streben nach echtem Austausch und Verbundenheit, und das Bewusstsein, dass wir alle gemeinsam in einem großen Ganzen existieren.