Die Villa „E.1027“ von Eileen Gray an der Küste von Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich. Filmausschnitt © RASC

INTERVIEW

Die Ar­chi­tek­tin und De­si­gne­rin Ei­leen Gray bau­te ei­ne mo­der­ne Vil­la an der Cô­te d’Azur für sich und ih­ren Le­bens­ge­fähr­ten. Spä­ter über­mal­te Le Cor­bu­si­er die Wän­de von „E.1027“ – ein Akt männ­li­cher Do­mi­nanz. Drehbuch­au­to­rin und Re­gis­seu­rin Bea­tri­ce Min­ger im Ge­spräch mit Ju­dith Au­gus­tin (DDC) über ih­ren Film „E.1027 – Ei­leen Gray und das Haus am Meer“.

Veröffentlicht am 02.10.2024

Ju­dith Au­gus­tin: Dei­nen neu­en Film wid­mest du der Ar­chi­tek­tin und De­si­gne­rin Ei­leen Gray – kannst du zu­sam­men­fas­sen, wor­um es geht?

Bea­tri­ce Min­ger: Ei­leen Gray, in den 1920er-Jah­ren in Pa­ris vor al­lem be­kannt für ihr Mö­bel­de­sign, bau­te 1929 zu­sam­men mit Jean Ba­do­vici an der Cô­te d’Azur ein Haus mit dem Na­men „E.1027“. Et­was spä­ter wur­de Le Cor­bu­si­er, ein Freund von Ba­do­vici, dar­auf auf­merk­sam. Er war fas­zi­niert von dem Haus. Nach­dem sie es ver­las­sen hat­te über­zog er die Wän­de mit sei­nen Ma­le­rei­en – und zer­stör­te da­mit die Wir­kung der Ar­chi­tek­tur völ­lig. Für Ei­leen Gray, die das erst viel spä­ter er­fuhr, wa­ren die­se Bil­der nichts we­ni­ger als Van­da­lis­mus. Sie for­der­te, dass sie ent­fernt wer­den – was Le Cor­bu­si­er igno­rier­te.

Das ist die Ober­flä­che die­ser Ge­schich­te: Ein männ­li­cher, mäch­ti­ge­rer oder pro­mi­nen­te­rer Künst­ler über­schreibt den Na­men ei­ner we­ni­ger be­kann­ten Künst­le­rin. Dar­un­ter lie­gen aber sehr viel mehr Ebe­nen, die wir im Film auf­grei­fen. Ei­leen Gray war als Per­son und als Künst­le­rin so grund­le­gend an­ders als Le Cor­bu­si­er, und es geht uns dar­um, die­se Dif­fe­ren­zen her­aus­zu­ar­bei­ten und die Me­cha­nis­men pa­tri­ar­cha­ler Macht­struk­tu­ren im Kunst­be­trieb sicht­bar zu ma­chen oder zu­min­dest mit ih­nen zu ar­bei­ten.

Eileen Gray (Natalie Radmall-Quirke) in der Nähe ihres Hauses „E.1027“ in Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich. Filmausschnitt © RASC

Ju­dith Au­gus­tin: Ur­sprüng­lich war die An­fra­ge, ei­nen Film über Le Cor­bu­si­er zu ma­chen. Wie kam es zum Pi­vot?

Bea­tri­ce Min­ger: Der Pro­du­zent Phi­lip De­laquis hat­te die Idee mit dem Film über Le Cor­bu­si­er und frag­te Chris­toph Schaub an. Der wie­der­um frag­te mich, ob ich da­zu re­cher­chie­ren wür­de. Da war von An­fang an so ein Fra­ge­zei­chen: Le Cor­bu­si­er ist sehr gut do­ku­men­tiert, im­mer und im­mer wie­der ge­fei­ert wor­den. Was bit­te wol­len wir da noch bei­tra­gen? Bei der Re­cher­che bin ich auf die­ses Haus ge­sto­ßen. Wir er­kann­ten dann re­la­tiv schnell, dass ei­gent­lich hier die viel span­nen­de­re Ge­schich­te für ei­nen Film liegt, weil in die­sem Haus so vie­le Ebe­nen und Dis­kur­se der Mo­der­ne zu­sam­men­kom­men.

Ju­dith Au­gus­tin: Du hast so­wohl Re­gie ge­führt als auch das Dreh­buch ge­schrie­ben, dir aber gleich­zei­tig die Rol­le der Re­gis­seu­rin mit Chris­toph Schaub ge­teilt. Was sind die Vor­tei­le und Her­aus­for­de­run­gen von Dop­pel­rol­len – Rol­len, die man teilt und Rol­len, bei de­nen man sich sel­ber tei­len muss?

Bea­tri­ce Min­ger: Das ist his­to­risch ge­wach­sen. Ur­sprüng­lich schrieb ich das Dreh­buch für Chris­toph Schaub, der als Re­gis­seur vor­ge­se­hen war. Und wir haben die ersten künst­lerischen Ent­scheidun­gen zu­sam­men ge­trof­fen. Er muss­te aus pri­va­ten Grün­den ein we­nig zu­rück­tre­ten, blieb aber im Hin­ter­grund da­bei und be­treu­te das Pro­jekt. Für mich war klar, dass ich die Vi­si­on, die ich im Dreh­buch ent­wi­ckelt hat­te – zu­nächst für ei­nen an­de­ren Re­gis­seur, der viel­leicht mit an­de­ren Mit­teln ar­bei­tet – zu mei­nem ei­ge­nen Film ma­chen kann.

Die Dop­pel­­rol­le der Autorin und Regis­seur­in war al­so sehr or­ga­n­isch für mich und auch die Zu­sammen­arbeit mit Christoph ist in neuer Form weiter­ge­gangen. Für die Um­setz­ung arbeiteten wir auch eng mit der Aus­­stat­­te­r­in Ni­na Ma­der und dem Ka­me­ra­­mann Ramón Gi­ger zu­sam­men. Wir ex­pe­ri­men­tier­ten und tes­te­ten viel, ent­wi­ckel­ten den Stu­dio­raum und muss­ten her­aus­fin­den, wie wir das fil­men kön­nen: Was brau­chen wir, um in die­sem Raum mit Schau­spie­lern zu ar­bei­ten, so­dass es mit den an­de­ren Ebe­nen – dem Haus, den Ar­chiv­bil­dern – zu­sam­men­passt?

Le Corbusier (Charles Morillon) veröffentlichte Bilder, die ihn selbst nackt vor den Fresken zeigen. Filmausschnitt © RASC

Judith Augustin: Dieser Raum, von dem du sprichst, ist ein ganz besonderer – der Film arbeitet mit einer hybriden Erzählweise und teilweise mit sehr szenischer Darstellung. Gab es Elemente in Eileen Grays Design, die euch beeinflussten und die das Spielerische bestärkten?

Beatrice Minger: Der Mut, die Grenzen der Realität und Imagination zu überschreiten, mit den Mitteln zu spielen, die man hat, und neue Lösungen zu finden – das hat mich sehr inspiriert. Vor allem, wenn man in das Haus „E.1027“ tritt, spürt man den Gestaltungswillen; jede Ecke ist von Eileen Gray gestaltet – mit Präzision, aber auch mit Sinn für Humor in der Architektur. Am Eingang steht zum Beispiel „entre lentement“ (langsam eintreten), und dort, wo man nicht durchgehen soll, heißt es „sans interdit“ (verbotene Richtung). Auch Schränke und Kästchen sind beschriftet. Man spürt einen großen Witz, Charme und Lust, mit dem Bewohner oder dem Menschen, der durch das Haus geht, in Kontakt zu treten. Man tritt in Beziehung mit dem Raum.

Diese spielerische Ebene war mir auch deshalb wichtig, weil Eileen Gray oft als sehr ernsthafte und diskrete Persönlichkeit wahrgenommen wird, während ich glaube, dass sie einen unglaublichen Witz und Charme hatte, den man in ihren Objekten, aber auch in ihrer Architektur spürt.

Judith Augustin: Direkt am Eingang steht „nicht lachen“. Hast du eine Idee, warum?

Beatrice Minger: Das steht unter einer Lampe, die sie designt hat, die so ein bisschen – man könnte fast sagen – phallisch aus der Wand herausragt. Aber bei Eileen Gray gibt es nie nur eine einzige Deutung der Dinge; sie inspiriert, in gewisse Richtungen zu denken, oder sie schubst einen ein bisschen an.

Eileen Gray (Natalie Radmall-Quirke) baute ein Haus für sich selbst. Leider wurde es ein Meisterwerk. Filmausschnitt © RASC

Ju­dith Au­gus­tin: Hat­tet ihr auch in dem Stu­dio­raum ori­gi­nal Ei­leen Gray-Mo­bi­li­ar zur Ver­fü­gung?

Bea­tri­ce Min­ger: Ja, wir hat­ten das Glück, mit Clas­si­Con zu­sam­men zu ar­bei­ten – dort konn­ten wir ei­ne Lis­te ab­ge­ben, mit Stü­cken, die wir lei­hen woll­ten. Wir ha­ben uns sehr ge­nau über­legt, wel­che Mö­bel wir aus­wäh­len und wie wir die Räu­me so ge­stal­ten, dass es kein Show­room wird. Am En­de ha­ben wir uns für sehr we­ni­ge Ob­jek­te ent­schie­den. Der schwar­ze „Brick-Screen“ ist na­tür­lich ein un­glaub­lich iko­no­gra­fi­sches Stück, aber auch der „Non-Con­for­mist Chair“, der al­lein schon vom Na­men per­fekt zu Ei­leen Gray passt. Das war für mich auch ir­gend­wann ein Schlüs­sel, um sie bes­ser zu ver­ste­hen: Man kann ei­gent­lich nie von vor­ge­fer­tig­ten Mei­nun­gen oder Ide­en über Ei­leen Gray aus­ge­hen. Es ist im­mer „non-con­for­mis­t“, im­mer ein biss­chen an­ders, als man am An­fang denkt oder von an­de­ren kennt.

Ju­dith Au­gus­tin: Er­staun­lich, dass sie so non-kon­for­mis­tisch ist und gleich­zei­tig in so vie­le Struk­tu­ren passt. Die durch Le Cor­bu­si­er for­mu­lier­ten „5 Punk­te zu ei­ner neu­en Ar­chi­tek­tur“ zum Bei­spiel fin­den sich in „E.1027“ wie­der – gleich­zei­tig woll­te Ei­leen Gray weg von der Wohn­ma­schi­ne Le Cor­bu­si­ers und wie­der hin zu ei­nem le­ben­di­gen, at­men­den De­sign. Auch heu­te wol­len vie­le De­si­gne­rin­nen weg vom Dog­ma „form fol­lows func­tion“. Gibt es Par­al­le­len da­zu im Film?

Bea­tri­ce Min­ger: De­fi­ni­tiv. Die Dra­ma­tur­gie von Ge­schich­ten, die Fra­ge, wie man ei­ne Ge­schich­te zu er­zäh­len hat, da­mit sie als Ge­schich­te gilt, ist ja im Grun­de männ­lich ge­prägt: „drei Ak­te, Grund­kon­flikt – oh­ne Kon­flikt kei­ne Ge­schich­te.“ Sol­che Sät­ze ha­be ich als Fil­me­ma­che­rin in mei­nen Pro­jek­ten im­mer wie­der ge­hört. Ich spü­re je­doch ein star­kes Be­dürf­nis, Ge­schich­ten an­ders zu er­zäh­len. Zum Bei­spiel fin­de ich in­ne­re Kon­flik­te we­sent­lich in­ter­es­san­ter, die füh­ren dann auch zu äu­ße­ren Kon­flik­ten, wie wir al­le wis­sen. Aber die­se Idee, dass man sich nur dann spürt, wenn man sich mit an­de­ren reibt und im Kon­flikt mit an­de­ren steht, hal­te ich für et­was sehr Männ­li­ches.

Ich fin­de es auch span­nend, was du über die De­si­gne­rin­nen sagst, die heu­te Ähn­li­ches spü­ren. Wir Frau­en ha­ben ei­nen an­de­ren Kör­per, wir er­fah­ren die Welt an­ders, sind an­ders so­zia­li­siert, wie un­se­re Müt­ter und Gro­ß­müt­ter auch schon. Wir wol­len un­se­re ei­ge­ne Spra­che spre­chen, wir wol­len uns mit ei­ge­nen fil­mi­schen Mit­teln aus­drü­cken. Und ich glau­be, die Zeit ist jetzt auch da, dass das mög­lich ist.

Bei Ei­leen Gray se­he ich ge­nau das als Kern. Ih­re fun­da­men­tal an­de­re Welt­sicht hat Per­so­nen wie Le Cor­bu­si­er ir­ri­tiert. Wie du schon sagst, sie nahm die Prin­zi­pi­en von Le Cor­bu­si­er auf und in­ter­pre­tier­te sie neu: Das Haus muss in Be­zie­hung zum Men­schen ste­hen, nicht nur als funk­tio­na­le Ma­schi­ne. Ihr An­satz war ei­ne Re­vo­lu­ti­on von in­nen her­aus, im Ge­gen­satz zu Le Cor­bu­si­ers Au­ßen­blick auf Form und Struk­tur.

Eileen Gray (Natalie Radmall-Quirke) und Jean Badovici (Axel Moustache) am Wasser in Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich. Filmausschnitt © RASC

Ju­dith Au­gus­tin: Im Film sagt Le Cor­bu­si­er: „Da­nach glaub­ten vie­le, ich hät­te die Vil­la ge­baut. Ich ha­be sie in dem Glau­ben ge­las­sen.“ Der Bau wur­de ihm zu­ge­schrie­ben, und er hat es nicht klar­ge­stellt.

Bea­tri­ce Min­ger: Das war ei­ne Art Igno­ranz und Selbst­ver­ständ­lich­keit, sich zu neh­men, was er will und da­mit zu ma­chen, was er möch­te. Da­zu kommt die Ak­zep­tanz der Ge­sell­schaft, die­ser Ge­dan­ke, dass ein Ge­nie sich auch im pri­va­ten Raum Frei­hei­ten neh­men kann, oh­ne dass es Kon­se­quen­zen gibt.

Ju­dith Au­gus­tin: Was, wenn es um­ge­kehrt ge­we­sen wä­re: Hät­te Ei­leen Gray Wän­de in ei­nem Le Cor­bu­si­er-Haus an­ge­malt?

Bea­tri­ce Min­ger: Das wä­re un­denk­bar ge­we­sen. Es war für sie ein tief­grei­fen­der Über­griff, den sie als Ver­ge­wal­ti­gung ih­rer Ar­chi­tek­tur be­trach­te­te. Sie bat ihn, die be­mal­ten Wän­de zu über­strei­chen, aber er lehn­te ab und be­an­spruch­te, dem Haus Ruhm ver­schafft zu ha­ben. Iro­ni­scher­wei­se trug ge­nau die­se Am­bi­va­lenz zur spä­te­ren Ret­tung und Re­stau­rie­rung des Hau­ses bei. „E.1027“ ist heu­te ein Mu­se­um, die Wand­bil­der sind noch da, und die klei­ne Ur­laubs­hüt­te von Le Cor­bu na­mens „Ca­ba­non“ so­wie die Bar „L’Étoi­le de Mer“, die er um­ge­stal­te­te, na­tür­lich auch. Es ist jetzt ein Schau­platz für ge­nau das, wor­über wir spre­chen: Was ist da über­haupt pas­siert? Wo pas­siert die Grenz­über­schrei­tung, und was ist okay und was nicht? Das ist nicht so ein­fach, da ge­nau den Fin­ger drauf zu le­gen.

Eileen Gray (Natalie Radmall-Quirke) im Studioraum. Filmausschnitt © RASC

Ju­dith Au­gus­tin: Ich be­schäf­ti­ge mich seit ei­ni­ger Zeit mit weib­li­cher Krea­ti­vi­tät. Es zeigt sich wie­der­keh­rend, dass Ide­en für Frau­en we­sent­lich ris­kan­ter sind als für Män­ner: Sie ha­ben kei­ne Lob­by, müs­sen sich von An­fang an stär­ker durch­set­zen, ha­ben we­ni­ger Sup­port bei der Um­set­zung, und des­halb, wenn das Werk voll­endet ist, schluss­end­lich kei­ne Ka­pa­zi­tät mehr für die Ver­mark­tung. Das ist der Mo­ment, in dem sie oft ih­rer Ide­en be­raubt wer­den.

Nun war Ei­leen Gray kei­ne An­fän­ge­rin, sie war En­de 40, ei­ne er­fah­re­ne De­si­gne­rin und auch Un­ter­neh­me­rin, als sie be­gann, „E.1027“ zu bau­en. Sie war gut ver­netzt in der Avant­gar­de, hat­te sich im Aus­tausch mit vie­len Künst­le­rin­nen ih­rer Zeit ei­nen Na­men ge­macht, ge­mein­sam mit Eve­lyn Wyld ei­ne Ga­le­rie auf­ge­baut, die sie un­ter dem männ­li­chen Na­men „Jean Dé­ser­t“ führ­te. Das be­rühm­te Por­trait von ihr stammt von Be­re­nice Ab­bott, der ehe­ma­li­gen As­sis­ten­tin von Man Ray, die auch Co­co Cha­nel, Ja­mes Joy­ce, Dju­na Bar­nes und Jean Coc­teau fo­to­gra­fier­te. Sie war al­so sehr gut auf­ge­stellt. Und trotz­dem ist es pas­siert?

Bea­tri­ce Min­ger: Und trotz­dem ist es pas­siert, ge­nau. Was du über die weib­li­che Krea­ti­vi­tät ge­sagt hast, trifft, glau­be ich, heu­te im­mer noch zu, aber na­tür­lich war es vor fast 80 Jah­ren noch viel stär­ker der Fall. Be­son­ders der Über­tritt in die Öf­fent­lich­keit war für Ei­leen Gray ei­ne am­bi­va­len­te Er­fah­rung. Es hei­ßt, sie ging nie zu ih­ren ei­ge­nen Ver­nis­sa­gen, weil sie den Blick von au­ßen, die Be­ur­tei­lung und das Ge­fühl, aus­ge­stellt zu sein, nicht er­tra­gen konn­te. Hin­zu kommt, dass der Ein­tritt in die männ­lich do­mi­nier­te Ar­chi­tek­tur­welt im­mer ei­ne Rei­bung be­deu­te­te.

Für Ei­leen Gray war es aber letzt­lich nicht der grö­ß­te Schmerz­punkt, dass ihr Na­me über ei­ne ge­wis­se Zeit ver­schwand. 1968, im ho­hen Al­ter, wur­de sie ge­fei­ert, und das war ihr fast ein we­nig un­an­ge­nehm. Viel­mehr ver­letz­te es sie, dass ih­re Vi­si­on von der Ar­chi­tek­tur auf ei­ne so ge­walt­tä­ti­ge Wei­se über­schrie­ben wur­de: der Dis­re­spect, die Miss­ach­tung des­sen, was sie mit „E.1027“ er­reicht hat­te.

Ju­dith Au­gus­tin: Die Fi­gur der Ei­leen lacht we­nig im Film, da­für ist das Letz­te, was wir von der fast hun­dert­jäh­ri­gen De­si­gne­rin hö­ren, ein La­cher. Kein Groll ist zu hö­ren.

Bea­tri­ce Min­ger: Der Schmerz, den sie er­lebt hat, ist re­al, aber sie ist nicht bit­ter ge­stor­ben. Le Cor­bu­si­er woll­te in ih­rer Bio­gra­fie viel­leicht ei­ne grö­ße­re Rol­le spie­len, aber sie gab ihm nicht die­sen Raum. Für mich war es wich­tig, dass auch der Film im Ge­samt­kon­text nicht Le Cor­bu­si­er das Ge­wicht gibt. Die An­hän­ger von Le Cor­bu­si­er be­trach­ten die Ge­schich­te von „E.1027“ als ei­ne Fuß­no­te in sei­nem rie­si­gen Werk, aber ich woll­te zei­gen, dass Le Cor­bu­si­er ei­gent­lich nur ei­ne Fuß­no­te in ih­rem gro­ßen Werk war. Und das soll­te am Schluss auch deut­lich wer­den – dies­mal ge­winnt er nicht, son­dern sie.

Die Freunde Jean Badovici (Axel Moustache) und Le Corbusier (Charles Morillon) auf der Terrasse von „E.1027“. Filmausschnitt © RASC

Ju­dith Au­gus­tin: Aber das ist nicht das En­de: Du setzt noch eins drauf. Du schlie­ßt den Film mit ei­ner Cho­reo­gra­fie, in der Ei­leen Gray führt. Ein Aus­blick?

Bea­tri­ce Min­ger: Ja, ich ha­be lan­ge nach ei­nem Schluss ge­sucht, der die­se Leich­tig­keit von Ei­leen Gray auf­nimmt, ein Tanz, in dem je­de Be­we­gung wie­der­holt wird, fast me­cha­nisch, aber auch mit ei­nem Aus­druck in­di­vi­du­el­ler Per­sön­lich­keit. Es ist ein Hin und Her, ein rhyth­mi­sches Mit­ein­an­der, das zeigt, dass wir in der­sel­ben Welt le­ben und dar­an ar­bei­ten, und viel­leicht kann man sa­gen, dass auch Män­ner dar­in auf ge­wis­se Wei­se Op­fer sind, weil wir al­le un­ter Ste­reo­ty­pen lei­den. Es geht dar­um, ge­mein­sam die­se Struk­tu­ren auf­zu­bre­chen.

Ju­dith Au­gus­tin: Der De­si­gn­wett­be­werb des DDC hei­ßt WAS IST GUT. Wie wür­dest du die­se Fra­ge be­ant­wor­ten? Was ist gut?

Bea­tri­ce Min­ger: Für mich be­deu­tet „gut“ vor al­lem, sich als Teil ei­nes grö­ße­ren Gan­zen zu ver­ste­hen. In mei­ner Ar­beit und in mei­nem Le­ben stel­le ich im­mer mehr fest, wie sehr ich von äu­ße­ren Ein­flüs­sen ge­prägt bin – sei es durch die Um­ge­bung, in der ich mich ge­ra­de be­fin­de, oder durch die Er­fah­run­gen und das Um­feld, aus dem ich kom­me. Die­se Er­kennt­nis bringt mich zu ei­ner Sicht­wei­se, die auch Ei­leen Gray wi­der­spie­gelt: Sie be­trach­te­te sich nicht nur als De­si­gne­rin, son­dern als je­mand, der in Re­so­nanz mit der Welt steht, als Me­di­um, das et­was ent­wi­ckelt und der Welt zu­rück­gibt.

Für mich als Fil­me­ma­che­rin be­deu­tet „gut“, wenn ich mit mei­nen Ar­bei­ten ei­ne ech­te Ver­bin­dung zum Pu­bli­kum her­stel­len kann. Es geht dar­um, durch mei­ne Fil­me Kom­mu­ni­ka­ti­on und Re­so­nanz zu er­mög­li­chen. Statt uns iso­liert und als Ein­zel­kämp­fer hin­ter un­se­ren Te­le­fo­nen zu ver­ste­cken und kon­flik­tuö­se Aus­ein­an­der­set­zun­gen zu füh­ren, weil wir glau­ben, wir könn­ten was ret­ten, was uns ge­hört, soll­ten wir uns als Teil ei­nes grö­ße­ren Netz­werks se­hen, in dem wir von­ein­an­der ab­hän­gig sind. „Gut“ ist für mich da­her das Stre­ben nach ech­tem Aus­tausch und Ver­bun­den­heit, und das Be­wusst­sein, dass wir al­le ge­mein­sam in ei­nem gro­ßen Gan­zen exis­tie­ren.

 

Trailer und Infos zum Film:
www.riseandshine-cinema.de

Weitere Infos über das Haus „E.1027“
www.capmoderne.com

DDC Women’s Table nach der Premiere in Stuttgart am 24.10.2024
www.ddc.de/de/puls/news.php#movie

Eileen Gray (1878 – 1976)

ist ei­ne der wich­tigs­ten Ar­chi­tek­tin­nen und De­si­gne­rin­nen des frü­hen 20. Jahr­hun­derts. Ihr Tisch „E.1027“ ge­hört zu den meist­ko­pier­ten und be­kann­tes­ten De­signs der Welt, be­reits 1978 wur­de er vom Mu­se­um of Mo­dern Art in New York in des­sen stän­di­ge Samm­lung auf­ge­nom­men. Ihr Ses­sel­ent­wurf „Fau­teuil aux Dra­gon­s“ wur­de 2009 für über 21 Mil­lio­nen Eu­ro ver­kauft und war da­mit das bis dahin teu­ers­te De­si­gn­ob­jekt, das je in ei­ner Auk­ti­on ver­stei­gert wur­de.

 

 


Bild © vic & chris

Beatrice Minger (*1980)

ist Au­to­rin und Re­gis­seu­rin und lebt in Zu­̈­rich. Sie stu­dier­te Film, Ger­ma­nis­tik und Neue­re Ge­schich­te in Zu­̈­rich, Ber­lin und Lau­sanne. Nach dem Stu­di­um ar­bei­te­te sie als Re­gie­as­sis­ten­tin und Script Su­per­vi­so­rin an ver­schie­de­nen Pro­jek­ten und führt Re­gie bei Kurz­fil­men und Vi­deo­clips. 2018 ist ihr Kunst­buch „Hier saß er“ er­schie­nen. Ih­re Kurz­fil­me „Love a Litt­le“ (2018) und „I Feel Mo­re Li­ke A Stran­ger“ (2021) wer­den auf in­ter­na­tio­na­len Kurz­film­fes­ti­vals ge­zeigt. Der hy­bri­de Ki­no-Do­ku­men­tar­film „E.1027 – Ei­leen Gray und das Haus am Meer“ kommt am 24. Ok­to­ber in die deut­schen Ki­nos und ist ihr Lang­film­de­büt.