DESIGN DISKURS
Viktoria Kirjuchina ist leitende Professorin des Fachbereichs Kommunikationsdesign im Studiengang Multimedia Art der Fachhochschule Salzburg. DDC Vorstandsmitglied Robin Auer ist leitender Designer bei IBM in Stuttgart. Ein Gespräch über neue Lehransätze, das Erkennen von Wirkmechanismen und wie das hilft, unsere Gesellschaft demokratischer und die Protagonisten mündiger zu machen.
Robin Auer: Der Beruf von Gestalter*innen verändert sich seit Jahren stetig. Vermehrt wird von uns gefordert, strategisch zu denken sowie unsere Entscheidungen herleiten und begründen zu können. Dadurch werden natürlich auch Themen aus anderen Disziplinen relevanter für die Designlehre. Dazu gehören sicherlich Inhalte der Betriebswirtschaftslehre, aber auch Psychologie oder Soziologie. Letzteres nehme ich ganz besonders bei meiner Arbeit mit künstlicher Intelligenz und der Umsetzung solcher Systeme bei IBM wahr. Was denkst du, wie können uns Methoden und Vorgehensweisen aus anderen Disziplinen zu besseren Gestalter*innen machen?
Viktoria Kirjuchina: In der Art, wie ich selbst an der Universität der Künste in Berlin ausgebildet wurde, war eine strategische Vorgehensweise immer im Vordergrund. Damit war für mich schon immer klar, dass unsere gestalterischen Handlungen auch Auswirkungen auf das politische und gesellschaftliche Miteinander haben und wir damit Verantwortung tragen. Dennoch bot eine solche Ausbildung fast ausschließlich intuitive und künstlerische Zugänge an, um strategisch zu agieren. Um die Begründungsfähigkeit von Gestaltungsentscheidungen war es da nicht besonders gut bestellt. Ein Fachhochschulstudium stellt traditionellerweise noch zusätzlich den Anspruch, den Arbeitsmarkt zu bedienen. Es ist also darauf zu achten, was gerade jetzt von Gestalter*innen gefordert ist, damit sie später nahtlos in die Berufswelt einsteigen können. Anforderungen an den Fokus der Ausbildung und die vermittelten Bezüge, nach denen du fragst, können dadurch unterschiedlich geartet sein.
„Damit war für mich schon immer klar, dass unsere gestalterischen Handlungen auch Auswirkungen auf das politische und gesellschaftliche Miteinander haben und wir damit Verantwortung tragen.“
Dadurch steht man vor der Entscheidung, ob man die Ausbildung eher entlang von Medien, Technologien und Instrumentarien ausrichtet. Oder ob man zukünftige Gestalter*innen konzeptionell und strategisch ausbilden soll. In Zeiten schnellen technologischen Wandels entscheidet sich diese Frage für mich klar: Setze ich ausschließlich auf Technologien zur Umsetzung von Projekten, bereite ich Gestalter*innen auf die nächsten fünf bis sieben Jahre im Berufsleben vor. Das liegt daran, dass sich Anforderungen an Fertigkeiten und Fähigkeiten schnell verändern. Zunehmend werden gestalterische Produktionsschritte automatisiert. Auf künstlicher Intelligenz basierende Applikationen nehmen Gestalter*innen zunehmend gerade im „Crafts“-Bereich die Arbeit ab. Für mich als Lehrende ist es wichtig, dass junge Gestalter*innen eine Karriere von 35 bis 40 Jahren haben. Es sollen eben keine Eintagsfliegen ausgebildet werden, sondern Menschen, die kompetent sind, sich in diesem disruptiven Wandel zu behaupten.
Robin Auer, Bild © Felix Hermann
Menschen, die jetzt Gestalter*innen werden, sollen ein tiefes und allgemeines Verständnis zwischenmenschlicher Kommunikation erwerben. Es gibt in dieser Auseinandersetzung eine Ebene, die man abkoppeln kann vom Konkretismus der Medien. Eine Reihe bereits bekannter Techniken der zwischenmenschlichen Kommunikation können medienübergreifend angewandt werden. Fragen wie „Wie errege ich Aufmerksamkeit?“, „Wie löse ich Emotionen aus?“, „Wie strukturiere ich eine Kommunikationshandlung?“ und „Wie bin ich für mein Zielpublikum überzeugend?“ stellen sich in allen Medien.
Es geht mir daher darum, andere Disziplinen zurate zu ziehen, die eine Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen unterstützen. Anknüpfungspunkte findet man zum Beispiel in Rhetorik, Semiotik, Psychologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Soziologie und Kognitionswissenschaften. Gleichzeitig ist es unabdingbar, Kommunikationsdesigner*innen Methoden an die Hand zu geben, sich schnell in neue mediale Settings hineinzuarbeiten. Design Thinking, Techniken des Design Research und User Testing sind hier von zentraler Bedeutung. So können Gestalter*innen sich schnell an Veränderungen der medialen Umwelt anpassen und gewinnbringend auf wechselnden Märkten agieren.
Robin Auer: Du leitest den Fachbereich Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Salzburg. Für diesen Fachbereich hast du im vergangenen Jahr ein neues Curriculum entwickelt. Bei meinen Recherchen bin ich auf der Webseite für den angebotenen Master über folgende Beschreibung gestolpert: „Modernes Kommunikationsdesign erfordert holistische Ansätze, vernetztes Denken und starke Ideen.“ Welche theoretischen Grundlagen sind dadurch in den Aufbau geflossen? Gerade auch in Bezug darauf, dass aktuell technologische Disruptionen Hochkonjunktur haben.
Viktoria Kirjuchina: Es geht ja wie gesagt nicht darum, irgendetwas Ästhetisches und Kreatives mit Gestaltungsprogrammen zu machen, sondern vielmehr darum, sich selbst als Gestalter*in und den kommunikativen Prozess mit der Zielgruppe in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zu stellen. Denn es sind ja Einzelne, die die Fähigkeiten erwerben, eine Masse oder eine Zielgruppe anzusprechen, um einen Unterschied zu erwirken, Haltungen zu verändern und Handlungen zu ermöglichen.
Die thematische Klammer für ein Curriculum wird somit Experience Design im weitesten Sinne. Das bedeutet, der Fokus liegt auf dem Nutzer*innenerlebnis. Egal ob man eine Kampagne oder ein Interface gestaltet, Adressat*innen und ihr Erlebnis mit dem Gestalteten rücken ins Zentrum. Am besten entwickelt man solche holistischen curricularen Programme nicht allein, sondern mit anderen Lehrenden zusammen. Einerseits braucht es erfahrene Praktiker*innen, andererseits soll auf ein umfassendes Reservoir an wissenschaftlichen Bezügen zugegriffen werden können. Ich hatte großes Glück den damaligen Fachbereichsleiter für Design-Management Prof. Thomas Grundnigg in diesem Prozess an meiner Seite zu haben. Wir beschäftigen uns schon länger mit diesem Thema und arbeiten gerade an neuen Lehrkonzepten für Designer*innen, in die unsere Erfahrungen und Forschungen der letzten Jahre einfließen.
„Am besten entwickelt man solche holistischen curricularen Programme nicht allein, sondern mit anderen Lehrenden zusammen.“
Eine Basistheorie, die sich für uns hierbei als hilfreich herausgestellt hat, ist die Rhetorik. Mit einer Tradition von 2500 Jahren bildet sie eine stabile Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Sie versteht sich als künstlerische Praxis und die dazugehörige methodische Theorie. Diese Theorie ist auf das Ziel jeder rhetorischen Handlung ausgelegt: Überzeugung des Publikums. Das Ziel der Rhetorik und das Ziel des Kommunikationsdesigns sind deckungsgleich. Zwar verstand sich Rhetorik immer als Sprechpraxis, doch sie hat sich immer wieder medial an neue Kommunikationsformen angepasst.
Rhetorik lässt sich daher als eine Art Grundlagentheorie verwenden, die in verschiedene andere Wissensbereiche hineingeht. Von dort aus kann man leicht Querverbindungen zu anderen Wissensräumen herstellen. Im Mittelpunkt stehen dabei immer das Erlebnis der Zielgruppe und die Überzeugungsarbeit. Mir ist noch nie eine ernstzunehmende Gestalterin oder ein Gestalter begegnet, der sich nicht für Psychologie oder Kognitionswissenschaften interessiert hätte. Dieses Interesse markiert die Sehnsucht nach mehr Verständnis für die Funktionszusammenhänge. Damit spielen auch Inhalte aus Sprachwissenschaften, Philosophie, Betriebswirtschaftslehre und Kunstgeschichte eine strukturgebende Rolle. Entlang der Frage nach der Wirkung auf das Publikum können diese Inhalte ins rhetorische Framework einfließen.
Die wissenschaftlichen Bezüge werden nicht entlang der fremden Fach-Programmatik benutzt, sondern folgen strikt den Bedürfnissen der Gestalter*innen. Sie dienen dazu, Prozesse, die wir aus dem Bauch heraus machen – und deshalb auch keine Sprache dafür haben – methodisch zu beschreiben. Das bedeutet nicht, dass wir zukünftig nach „Kochbuch“ gestalten, und auch nicht, dass Heuristiken und Methoden uns weniger kreativ machen. Sie helfen uns lediglich, eine Sprache für unser Tun zu entwickeln und damit ein besser vernetztes Gestalter*innengehirn zu haben.
Robin Auer: Könntest du ein Beispiel machen, bei dem Theorie und Praxis zusammenkommen?
Viktoria Kirjuchina: Studierende, die eine Kampagne gestalten, wie beispielsweise die zu unserem Rundgang, machen sich bewusst, dass zwischen Briefing und Endresultat rhetorische Produktionsschritte liegen. Möchte man eine Zielgruppe davon überzeugen, sich für unseren Rundgang zu interessieren, muss man sich im Klaren darüber sein, wer genau diese Zielgruppe ist, welche Argumente infrage kommen und welche Ausdrücke diese Zielgruppe ansprechen. Für den Rundgang haben Studierende ein strategisches, auf die erwünschte Wirkung ausgelegtes Überzeugungsnarrativ erarbeitet. An dieser Stelle würde jeder Kampagnengestalter sagen: „Genau so baut man doch immer schon Kampagnen!“. Ich kann darauf erwidern: „ja und nein.“ Die ausschließlich intuitiv ausgebildeten Gestalter*innen vergegenwärtigen sich nicht, dass sich zwischen kommunizierten Argumenten und den dazu gewählten Ausdrücken ein großer strategischer Handlungsraum eröffnet. Auch intuitiv ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man in dieser Hinsicht alles richtig macht, weil man mit seiner erfahrungsgesättigten Intuition die richtige, angemessene Gestaltungshandlung erspürt, man eloquent ist und einfallsreich. Vor Auftraggeber*innen hat man dann aber Probleme, sich zu begründen. Aus diesem Grund ist es besser, zuerst argumentativ vorzugehen und dann zu sehen, was es braucht, um einen passenden Ausdruck für die Zielgruppe zu finden.
„Die ausschließlich intuitiv ausgebildeten Gestalter*innen vergegenwärtigen sich nicht, dass sich zwischen kommunizierten Argumenten und den dazu gewählten Ausdrücken ein großer strategischer Handlungsraum eröffnet.“
Die Urheber*innen der Rundgang-Kampagne haben zu dem Argument, dass sie erarbeitet haben, circa 100 Ausdrucks-Varianten gestaltet. Ein Ausdruck ist dabei nichts anderes als ein visueller Effekt. Dazu gab es einen Kriterienkatalog, der bei der Auswahl des passenden Ausdrucks geholfen hat. Als die Studierenden in die Pflicht genommen wurden, ihre Entscheidungen vor einem Entscheidungsgremium zu rechtfertigen, weil es in Verdacht geriet, unpassend und dysfunktional zu sein, konnten sie ihre strategischen Überlegungen nachvollziehbar darlegen, ihre Gestaltungsentscheidungen begründen und durchsetzen.
Robin Auer: Nun gibt es bei dir an der Fachhochschule Salzburg im Masterstudium den Schwerpunkt „evidenzbasierte Massenkommunikation“. Wenn ich im Rahmen eines Studiums langsam an dieses Thema der Rhetorik herangeführt werde, verstehe ich irgendwann, wie ich Stilmittel aus der Rhetorik auf meine visuelle Arbeit übertragen kann, um dadurch gezielt eine Gruppe von Menschen anzusprechen. Wie ist das in eurem Masterstudiengang in Bezug auf Massenkommunikation integriert?
Viktoria Kirjuchina: Wie du schon andeutest, sind das zwei Schritte: Im ersten Semester lernen Studierende die Grundlagen visueller Rhetorik kennen, während sie ausgiebig mit visuellen Sprachen experimentieren. In diesem Abschnitt geht es um wilde Kreativität, die strategisch eingesetzt wird und darum, Hemmungen abzulegen und mehr Selbstsicherheit bei kreativen Experimenten zu entwickeln. Im zweiten Semester liegt der Schwerpunkt auf spekulativen Design und Weltbildern, die reproduziert und multipliziert werden. Analog zur Redeübung ist dabei die Präsentation der Arbeiten unser Messinstrument und Prüfstein.
Im dritten Semester – bevor es in Richtung Masterthesis geht – gibt es dann eine Art Aktualisierung. Uns ist aufgefallen, dass es Themen gibt, die für Kommunikationsdesigner*innen im Grunde seit Mitte des letzten Jahrhunderts relevant sind, die aber kaum Niederschlag in Designstudien finden. Namentlich sind das Statistik und Informatik. Wenn man verfolgt, was sich im Bereich Machine Learning gerade tut – Stichwort GPT3, Dall-E, Stable Diffusion, etc. – kommt man nicht umhin, sich mit den Grundlagen zu beschäftigen.
Nachdem sich Studierende also der ganzen Komplexität ihres Tuns hingegeben haben, untersuchen wir, welche Muster dem zugrunde liegen. Deshalb nutzen wir das dritte Semester dazu, auch statistisch auf unsere Arbeit als Kommunikationsdesigner*innen zu schauen. Konkret heißt das, dass wir in den Gestaltungsprozess eine weitere Schleife einziehen, um Entwürfe zu validieren und auf Basis gewonnener Erkenntnisse dann zu optimieren. Um etwas Licht in die sonst uneinsehbare Black Box KI zu bringen und um zu sehen, welche Masseneffekte dabei entstehen. Für „evidenzbasierte Massenkommunikation“ machen wir eine statistische Recherche, in der wir eine größere Menge Bilder annotieren. Dass wir eine Sprache für die Form aus der Rhetorik haben, kommt uns beim Kodieren von Bildern sehr entgegen. Wir nutzen zur Analyse der Bilder die gleiche Sprache. Anschließend können wir nach Kriterien filtern und erkennen Muster, die von vielen Gestalter*innen kollektiv reproduziert werden und sich durchsetzen. Auch dabei gibt es viele Komponenten, die wir aus anderen Bezugsdisziplinen brauchen. Wir haben es mit Darstellungskonventionen, Blickregimen und Wahrnehmungsgewohnheiten zu tun, die wir fokussieren und damit viel präziser entscheiden können, an welcher Stelle ein spannendes und lustvolles Momentum ist, das gerade für diese Argumentation den richtigen Ausdruck in sich trägt.
„Dass wir eine Sprache für die Form aus der Rhetorik haben, kommt uns beim Kodieren von Bildern sehr entgegen.“
Robin Auer: Euer Vorgehen bei der Analyse einer großen Masse an gestalterischen Ergebnissen und das Herausarbeiten von Mustern ist unglaublich spannend. Das Kodieren von qualitativen Informationen ist auch die klassische Art und Weise, wie man Nutzerforschung betreiben kann. In dem Fall betreibt ihr ja wirklich massenkommunikationsbezogene Forschung, um Muster zu identifizieren. Dadurch kann man natürlich erkennen, welche Muster in der Vergangenheit funktioniert haben und kann diese auf künftige Herausforderungen umlegen. Auf diese Weise könnte man dann auch herausfinden, ob diese gleichen Methoden auch mit neuen Medien funktionieren oder ob sich Kommunikationswege verändern und angepasst werden müssen. Ist das ein Bereich, den ihr untersucht? Zum Beispiel für Medien wie Augmented Reality oder Virtual Reality?
Viktoria Kirjuchina: Das trifft es sehr gut. Wir beschäftigen uns mit omni-medialen Effekten. Mit Effekten, die übertragbar sind, in jedes Medium. Ein Effekt spielt mit der menschlichen Wahrnehmung, mit Erwartungen und Überraschungen. Er weckt Emotionen und kann dazu verhelfen, Einsichten zu generieren. Ein Effekt hat immer eine rhetorische Funktion, dient der Überzeugung und stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Kommunikationsprozesses.
Gleichzeitig suchen wir nach jenen Effekten, die sehr erfolgreich funktionieren und machen dann Vorhersagen über deren Wirkung. In der Rhetorik sprechen wir von Wirkungsintention. Der Entwurf wird zur Hypothese und den Erfolg kann man wiederum messen. In unserem Fall messen wir Erfolg nicht nur mit statistischen Erhebungen, sondern auch in Design Awards, die wir mit den Projekten gewinnen.
Wir stützen uns aber nicht nur auf gut funktionierende Theorie als Basis unseres Lehrkonzepts, sondern sind experimentierfreudig und leben die künstlerische Praxis in aller Konsequenz. Hinzu kommt, dass wir große Neugier gegenüber anderen, besonders technischen Studienrichtungen haben. In unserem Studiengang MultiMediaArt treffen unterschiedliche Fachbereiche aufeinander und mit dem Studiengang MultiMediaTechnology arbeiten wir eng zusammen. Wir entwickeln ständig neue künstlerische Experimente mit VR, AR, oder Machine Learning. Es entstehen Medieninstallationen, Ausstellungskonzepte und partizipative Infografiken. Weil wir als Gestalter*innen medienübergreifend oder besser medienunabhängig arbeiten, kommt Kommunikationsdesign hier als Schnittstelle besonders zum Tragen.
Robin Auer: Ein Thema, das uns im DDC dieses Jahr ganz intensiv beschäftigt, ist „Design for Democracy“. Wir hatten am Anfang des Jahres ein Konvent in Frankfurt zu diesem Thema, wobei ein Schwerpunkt hierbei auf der Ausbildung von Gestalter*innen lag. Du hattest ja bereits erwähnt, dass das Erkennen von Wirkmechanismen und Funktionszusammenhängen beim Gestalten deiner Meinung nach dazu beiträgt, unsere Gesellschaft demokratischer und die Protagonist*innen mündiger zu machen. Kannst du uns mehr darüber erzählen, wo du hier Zusammenhänge siehst?
Viktoria Kirjuchina: Unreflektierter Umgang mit Medien, speziell Blindheit für Manipulationsstrategien, steht meiner Auffassung nach in direktem Zusammenhang mit Prozessen der Entdemokratisierung. Im Umkehrschluss lässt sich behaupten, dass die Fähigkeit, Funktionszusammenhänge der Persuasion zu erkennen, ein Schlüssel zum demokratischen Diskurs in unserer Gesellschaft ist.
„Unreflektierter Umgang mit Medien, speziell Blindheit für Manipulationsstrategien, steht meiner Auffassung nach in direktem Zusammenhang mit Prozessen der Entdemokratisierung.“
Gestalter*innen haben sich meiner Meinung nach in eine ungünstige Rolle hineinmanövriert. Jahrzehntelang kreierte man hocheffiziente Massenkommunikation und reproduzierte eine Lehre, die sich mit stummen Zeigen von Bildbeispielen und dem impliziten Training gestalterischer Intuition abgefunden hat. Dabei dominiert die visuelle Kommunikation mittlerweile große Bereiche in unserer Gesellschaft. Im Politischen ist das nicht anders. Für den Diskurs existiert aber kein verbindliches Vokabular und es gibt keine Einigung darauf, welche Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen dem Prozess visueller Argumentation zugrunde liegen. Wenn man die Trickkiste der Überzeugungsarbeit nicht kennt, läuft man Gefahr, sich im Prozess der Meinungsbildung täuschen zu lassen. Wir haben uns als Gestalter*innen mit unseren intuitiven Fähigkeiten vor einen Karren spannen lassen, der unreflektiert Weltbilder und politische Haltungen reproduziert.
Die Folge ist verheerend. Wir haben als Gesellschaft viel zu wenig visuelle Kompetenz ausgebildet. Wenn man als Urheber*in nicht benennen kann, was man beabsichtigt hat und nicht begründen kann, welche Effekte man dafür verwendet hat, kann man auch nicht sagen, wie man sein Publikum überzeugt oder sogar manipuliert hat. Wie sollen Rezipient*innen ausreichend Medienkompetenz entwickeln, wenn die Urheber*innen keine Sprache für die Wirkmechanismen haben? In turbulenten politischen Zeiten sehe ich unsere Verantwortung als Gestalter*innen darin, Demokratie zu schützen, indem wir für mehr visual literacy sorgen. Diese Kernkompetenz befähigt jede*n, Immunität gegen schamlose Manipulationen aufzubauen. Damit könnte man extremen gesellschaftlichen Spaltungen entgegenwirken und nachhaltig für unsere demokratische Gesellschaftsform sorgen.