DESIGN DISKURS

Die Designbranche leidet unter einem Dilemma: Überall zugerechnet und immer meta, bleibt sie kaum erklär- und greifbar, schreibt Boris Kochan, Präsident des Deutschen Designtag, Inhaber von Kochan & Partner sowie DDC Mitglied. Die Branche wäre allerdings groß genug, um Aufmerksamkeit im politischen Kontext zu erzielen. Kochans Botschaft an die Designer*innen: Klare Forderungen stellen, zusammenstehen und sich in einem Verband engagieren!

Veröffentlicht am 05.09.2020

Applied Imagination heißt ein Master-Kurs an einer der weltweit an­erkann­testen Insti­tutionen für Design­aus­bildung Central Saint Martins in London, was über­setzt heißen könnte: ange­wandte Fantasie. Die Aus­bildung ver­spricht, zum Problem-(Er-)Finder und Change­maker zu werden, zu Designer­*innen, die über besondere Imaginations­fähig­keiten verfügen und Bestehendes systematisch infrage stellen. Klingt toll, aktuell, notwendig – nur was erkläre ich eigentlich meinen Eltern, wenn ich einen solchen Kurs belegt habe und mich dann nach 45 Wochen Master of Applied Imagi­nation nennen darf? Die Eltern nehmen sich viel­leicht noch die Zeit zu­zu­hören, wenn es in den Er­klärungen um Forschung als kreatives Werkzeug, inno­vativ-verant­wort­liches Unter­nehmer­tum wie auch multi­diszi­pli­näre und multi­kultur­elle Zusam­men­arbeit geht. Wie aller­dings er­läutere ich diesen Design­beruf – und die vielen anderen neuen – abends in zwei Sätzen an der Bar? Oder aber einem Bundes­wirt­schafts­minister Peter Alt­maier, der sowieso am liebsten horizontal agiert, also nicht an den spezi­fischen Besonder­heiten einer Branche orien­tiert denkt, sondern – durch­aus auf­geschlossen und interes­siert – nach Gemein­sam­keiten und Verall­gemein­erung sucht?

„Das Dilemma: Design reagiert auf den Wandel und weitet die Designzone konsequent aus.“

Die Design­branche leidet unter einem relevanten Dilemma: Genre­typisch reagiert sie höchst kreativ auf den rasanten gesell­schaft­lichen und wirt­schaft­lichen Wandel und weitet die Design­zone konse­quent aus. Mit jeder neuen Adaption – und jeder gerne gleich dazu erfundenen neuen Design­disziplin nebst ent­sprechen­dem Studien­gang – wird sie dabei immer weniger greif-, versteh- und vor allem erklär­bar. Die Un­schärfe des Begriffs Design im Englischen tut ein Übriges, sodass es beispiels­weise ganz einfach für Unter­nehmens­be­ratungen war, Design Thinking zu ihrem Tool zu machen. Die Design­szene hat sich (zumindest über­wiegend) schmollend von ihrem erfolg­reichsten Export­artikel entfernt: Das machen wir doch schon immer so und die können das nicht!

Der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour hat in seinem lesenswerten Aufsatz »Ein vorsichtiger Prometheus?« schon 2008 die Grund­lagen für die Formel Aus­weitung der Design­zone gelegt: »Von einer Ober­flächen­eigen­schaft in den Händen eines ›nicht so wichtigen‹ Berufs­standes, der im Zuständig­keits­bereich von ›sehr viel ernsthafteren‹ Fach­leuten (Ingenieuren, Wissen­schaftlern, Geschäfts­leuten) Eigen­schaften hinzu­fügte, hat sich Design konti­nuierlich aus­gebreitet beziehungs­weise weiter­ent­wickelt, sodass es in zunehmen­dem Maße für das eigent­liche Wesen der Produk­tion von Bedeutung ist. Mehr noch, von den Details all­täglicher Objekte wurde Design aus­geweitet auf Städte, Land­schaften, Nationen, Kulturen, Körper, Gene und (...) auf die Natur selbst – die es dringend nötig hat, re-designt zu werden.« Und weiter: »Jeder, der heute ein iPhone benutzt, weiß, dass es absurd wäre, das, was daran designt wurde, von dem unter­scheiden zu wollen, was daran geplant, berechnet, gruppiert, arrangiert, zusammen­ge­fasst, verpackt, definiert, projektiert, gebastelt, disponiert, programmiert und so weiter wurde. Damit kann ›designen‹ gleicher­maßen eines von diesen Verben oder alle bedeuten.«

Latour folgert in seinen Reden und Schriften, dass Design beziehungs­weise das konkreter gefasste deutsche Gegenstück Gestaltung eine zutiefst moralische und politische Komponente in sich trägt. Design bezieht sich in seiner Grund­auf­fassung nicht auf unver­rückbare Fakten, »sondern nimmt kontro­verse und wider­sprüch­liche Problem­kontexte als Ausgangs­punkt und versucht Dinge zu ver­bessern. Die ange­strebten Problem­lösungen gehen dabei behut­sam und schritt­weise vor. Das macht sie fehler­freund­lich und reversibel im Gegen­satz zu den großen Lösungen, die im wissen­schaftlich-technischen Mach­barkeits­glauben der Moderne erschaffen werden und auf einen One Best Way zustreben (möchten) – und oft genug in Pfad­abhängig­keiten, Risiken und Neben­folgen münden.« (Gerald Beck)

„Corona bestätigt das Dazwischen der Branche: Überall zugerechnet und immer meta, aber kaum erklär- und greifbar.“

Moral, Verantwortung, Ethik – werden von den meisten Designer­*innen als wesentlich für ihre Tätigkeit anerkannt, auch wenn sie als wirt­schaftlich häufig sehr abhängige Dienst­leister damit hadern. Die Corona-Krise bestätigt dieses Da­zwischen, dieses Zwischen allen Stühlen: Überall zu­gerechnet und immer meta, in seiner Vielfalt zwar wunder­schön, aber eben irr­lichternd im politischen Dschungel: kaum erklär-, geschweige denn für die Politik auch nur irgend­wie greifbar. Mal sind wir Künstler­*innen (wenn es um die Zuge­hörigkeit zur KSK geht), mal Kultur­schaffende (wenn es um unsere gesell­schaft­liche Verant­wortung geht), mal ein sehr entscheidender, inno­vativer Faktor für die Wirtschaft.

360.000 Designer­*innen gibt es mindestens in Deutschland (ganz genau weiß man natürlich auch das nicht), rund 60.000 Design­unter­nehmen mit einer Wert­schöpfung von rund 20 Milliarden Euro – innerhalb der Kultur- und Kreativ­wirtschaft ist Design damit eine der größten – und prosperierenden – Teil­branchen. Diese Zahlen wären groß genug, um Auf­merk­samkeit im politischen Kontext zu erzielen. Wenn, ja wenn es nur ein paar Verein­barungen gäbe, die so etwas wie einen neuen Design-Grund­konsens der Branche bilden: zwei bis drei zentrale Themen und daraus abgeleitete, stringent nachvoll­zieh­bare Forder­ungen an die Politik (und kein Jammern und Beklagen!) für die nächsten Jahre (ja: Jahre!). So, dass auch unsere Eltern und Peter Altmaier uns eindeutig verstehen können!

„Endlich akzeptieren, dass es uns als Design-Gemeinschaft braucht.“

Und etwas, was im privat-beruf­lichen Bereich fast aller Gestalter, in ihrem ganz persönlichen Habitus selbst­ver­ständlich ist: das Zusammen­stehen, das Drum­kümmern ... und zwar in einem über­geordneten Sinn: Solidarität! Endlich akzeptieren, dass es uns als Design-Gemein­schaft braucht, die sich organisieren muss, trotz und wegen unseres Indi­vidualis­mus. Dafür ist alles vorbereitet, seit es den Deutschen Designtag als vor vier Jahren gegründete bundes­politische Interessen­ver­tretung gibt. Einfach Mitglied werden in einer der unendlich vielfältigen Organi­sationen und Bewegungen der Design­branche (zum Beispiel beim DDC, der zukünftig auch Mitglied im Designtag sein wird) und sich engagieren.

Im Hand­buch für Studierende der Central Saint Martins Universität finden sich die Sätze: »Unsere Art der Kreativität erfordert den Mut, sich um Menschen, den Planeten und die Zukunft zu sorgen.« Es ist die Aufgabe der Designer­*innen, sich »eine Welt vorzu­stellen und zu gestalten, in der wir alle besser mit weniger leben können.« Der Architekt, Pädagoge, Schrift­steller und Leiter der Universität Jeremy Till spitzt das zu: »Wir sollten die Studier­enden nicht auf die Welt da draußen vor­bereiten. Wir sollten sie darauf vor­bereiten, die Welt da draußen zu verändern.« Dieses zutiefst politische Selbst­ver­ständnis fordert uns Designer­*innen noch den letzten großen Schritt in die Zukunft ab, und zwar einen wirklich grund­sätzlichen: Bezieht Stellung! Macht Euch präsent in der Politik, ja, geht in die Parteien oder in eine neue außer­parlamen­tarische Oppo­sition, aber unbedingt, ja: Politisiert Euch!

Boris Kochan

Seit über 40 Jahren ist Boris Kochan Gestalter, es geht ihm dabei um Beziehungen und Bezüge – ganz im Sinn von Roland Barthes »Ich errate, dass der wahre Ort der Originalität weder der Andere noch ich selbst bin, sondern unsere Beziehung.« Er engagiert sich als Gründungspräsident des Dachverbands deutscher Designorganisationen, Deutscher Designtag, als Vize-Präsident des Deutschen Kulturrats, Präsident der GRANSHAN Foundation, Vorsitzender des Beirats und Ehrenmitglied der Typographischen Gesellschaft München (tgm). Und hat 1981 gemeinsam mit Freunden die heute in München und Berlin ansässige Branding- und Designagentur KOCHAN & PARTNER gegründet.