DESIGN DISKURS
Die Designbranche leidet unter einem Dilemma: Überall zugerechnet und immer meta, bleibt sie kaum erklär- und greifbar, schreibt Boris Kochan, Präsident des Deutschen Designtag, Inhaber von Kochan & Partner sowie DDC Mitglied. Die Branche wäre allerdings groß genug, um Aufmerksamkeit im politischen Kontext zu erzielen. Kochans Botschaft an die Designer*innen: Klare Forderungen stellen, zusammenstehen und sich in einem Verband engagieren!
Applied Imagination heißt ein Master-Kurs an einer der weltweit anerkanntesten Institutionen für Designausbildung Central Saint Martins in London, was übersetzt heißen könnte: angewandte Fantasie. Die Ausbildung verspricht, zum Problem-(Er-)Finder und Changemaker zu werden, zu Designer*innen, die über besondere Imaginationsfähigkeiten verfügen und Bestehendes systematisch infrage stellen. Klingt toll, aktuell, notwendig – nur was erkläre ich eigentlich meinen Eltern, wenn ich einen solchen Kurs belegt habe und mich dann nach 45 Wochen Master of Applied Imagination nennen darf? Die Eltern nehmen sich vielleicht noch die Zeit zuzuhören, wenn es in den Erklärungen um Forschung als kreatives Werkzeug, innovativ-verantwortliches Unternehmertum wie auch multidisziplinäre und multikulturelle Zusammenarbeit geht. Wie allerdings erläutere ich diesen Designberuf – und die vielen anderen neuen – abends in zwei Sätzen an der Bar? Oder aber einem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, der sowieso am liebsten horizontal agiert, also nicht an den spezifischen Besonderheiten einer Branche orientiert denkt, sondern – durchaus aufgeschlossen und interessiert – nach Gemeinsamkeiten und Verallgemeinerung sucht?
„Das Dilemma: Design reagiert auf den Wandel und weitet die Designzone konsequent aus.“
Die Designbranche leidet unter einem relevanten Dilemma: Genretypisch reagiert sie höchst kreativ auf den rasanten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel und weitet die Designzone konsequent aus. Mit jeder neuen Adaption – und jeder gerne gleich dazu erfundenen neuen Designdisziplin nebst entsprechendem Studiengang – wird sie dabei immer weniger greif-, versteh- und vor allem erklärbar. Die Unschärfe des Begriffs Design im Englischen tut ein Übriges, sodass es beispielsweise ganz einfach für Unternehmensberatungen war, Design Thinking zu ihrem Tool zu machen. Die Designszene hat sich (zumindest überwiegend) schmollend von ihrem erfolgreichsten Exportartikel entfernt: Das machen wir doch schon immer so und die können das nicht!
Der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour hat in seinem lesenswerten Aufsatz »Ein vorsichtiger Prometheus?« schon 2008 die Grundlagen für die Formel Ausweitung der Designzone gelegt: »Von einer Oberflächeneigenschaft in den Händen eines ›nicht so wichtigen‹ Berufsstandes, der im Zuständigkeitsbereich von ›sehr viel ernsthafteren‹ Fachleuten (Ingenieuren, Wissenschaftlern, Geschäftsleuten) Eigenschaften hinzufügte, hat sich Design kontinuierlich ausgebreitet beziehungsweise weiterentwickelt, sodass es in zunehmendem Maße für das eigentliche Wesen der Produktion von Bedeutung ist. Mehr noch, von den Details alltäglicher Objekte wurde Design ausgeweitet auf Städte, Landschaften, Nationen, Kulturen, Körper, Gene und (...) auf die Natur selbst – die es dringend nötig hat, re-designt zu werden.« Und weiter: »Jeder, der heute ein iPhone benutzt, weiß, dass es absurd wäre, das, was daran designt wurde, von dem unterscheiden zu wollen, was daran geplant, berechnet, gruppiert, arrangiert, zusammengefasst, verpackt, definiert, projektiert, gebastelt, disponiert, programmiert und so weiter wurde. Damit kann ›designen‹ gleichermaßen eines von diesen Verben oder alle bedeuten.«
Latour folgert in seinen Reden und Schriften, dass Design beziehungsweise das konkreter gefasste deutsche Gegenstück Gestaltung eine zutiefst moralische und politische Komponente in sich trägt. Design bezieht sich in seiner Grundauffassung nicht auf unverrückbare Fakten, »sondern nimmt kontroverse und widersprüchliche Problemkontexte als Ausgangspunkt und versucht Dinge zu verbessern. Die angestrebten Problemlösungen gehen dabei behutsam und schrittweise vor. Das macht sie fehlerfreundlich und reversibel im Gegensatz zu den großen Lösungen, die im wissenschaftlich-technischen Machbarkeitsglauben der Moderne erschaffen werden und auf einen One Best Way zustreben (möchten) – und oft genug in Pfadabhängigkeiten, Risiken und Nebenfolgen münden.« (Gerald Beck)
„Corona bestätigt das Dazwischen der Branche: Überall zugerechnet und immer meta, aber kaum erklär- und greifbar.“
Moral, Verantwortung, Ethik – werden von den meisten Designer*innen als wesentlich für ihre Tätigkeit anerkannt, auch wenn sie als wirtschaftlich häufig sehr abhängige Dienstleister damit hadern. Die Corona-Krise bestätigt dieses Dazwischen, dieses Zwischen allen Stühlen: Überall zugerechnet und immer meta, in seiner Vielfalt zwar wunderschön, aber eben irrlichternd im politischen Dschungel: kaum erklär-, geschweige denn für die Politik auch nur irgendwie greifbar. Mal sind wir Künstler*innen (wenn es um die Zugehörigkeit zur KSK geht), mal Kulturschaffende (wenn es um unsere gesellschaftliche Verantwortung geht), mal ein sehr entscheidender, innovativer Faktor für die Wirtschaft.
360.000 Designer*innen gibt es mindestens in Deutschland (ganz genau weiß man natürlich auch das nicht), rund 60.000 Designunternehmen mit einer Wertschöpfung von rund 20 Milliarden Euro – innerhalb der Kultur- und Kreativwirtschaft ist Design damit eine der größten – und prosperierenden – Teilbranchen. Diese Zahlen wären groß genug, um Aufmerksamkeit im politischen Kontext zu erzielen. Wenn, ja wenn es nur ein paar Vereinbarungen gäbe, die so etwas wie einen neuen Design-Grundkonsens der Branche bilden: zwei bis drei zentrale Themen und daraus abgeleitete, stringent nachvollziehbare Forderungen an die Politik (und kein Jammern und Beklagen!) für die nächsten Jahre (ja: Jahre!). So, dass auch unsere Eltern und Peter Altmaier uns eindeutig verstehen können!
„Endlich akzeptieren, dass es uns als Design-Gemeinschaft braucht.“
Und etwas, was im privat-beruflichen Bereich fast aller Gestalter, in ihrem ganz persönlichen Habitus selbstverständlich ist: das Zusammenstehen, das Drumkümmern ... und zwar in einem übergeordneten Sinn: Solidarität! Endlich akzeptieren, dass es uns als Design-Gemeinschaft braucht, die sich organisieren muss, trotz und wegen unseres Individualismus. Dafür ist alles vorbereitet, seit es den Deutschen Designtag als vor vier Jahren gegründete bundespolitische Interessenvertretung gibt. Einfach Mitglied werden in einer der unendlich vielfältigen Organisationen und Bewegungen der Designbranche (zum Beispiel beim DDC, der zukünftig auch Mitglied im Designtag sein wird) und sich engagieren.
Im Handbuch für Studierende der Central Saint Martins Universität finden sich die Sätze: »Unsere Art der Kreativität erfordert den Mut, sich um Menschen, den Planeten und die Zukunft zu sorgen.« Es ist die Aufgabe der Designer*innen, sich »eine Welt vorzustellen und zu gestalten, in der wir alle besser mit weniger leben können.« Der Architekt, Pädagoge, Schriftsteller und Leiter der Universität Jeremy Till spitzt das zu: »Wir sollten die Studierenden nicht auf die Welt da draußen vorbereiten. Wir sollten sie darauf vorbereiten, die Welt da draußen zu verändern.« Dieses zutiefst politische Selbstverständnis fordert uns Designer*innen noch den letzten großen Schritt in die Zukunft ab, und zwar einen wirklich grundsätzlichen: Bezieht Stellung! Macht Euch präsent in der Politik, ja, geht in die Parteien oder in eine neue außerparlamentarische Opposition, aber unbedingt, ja: Politisiert Euch!