IN*VISIBLE Konzept und Umsetzung: Johanna Wicht und Christine Poplavski. Bild © Johanna Wicht

DESIGN DISKURS

Designer*innen tun sich häufig schwer, über den Inhalt und die Wirkung ihrer Arbeit zu sprechen. Eine Sprache für die Form ist aber unab­ding­bar, um am Diskurs über „Werte im Design“ teil­zu­nehmen – ob es sich um öko­nomische, öko­logische oder soziale Werte handelt.

Veröffentlicht am 05.12.2023

Es ist der Schrägstrich im dies­jährigen DDC Diskurs-Thema (Wert/e), der uns an etwas er­innert. An einen ‚Kipp­moment‘, der uns täg­lich begleitet: Werte und ‚Werte‘ – diese beiden gleich­lauten­den Worte, die immer wieder unter­schied­lich in uns räso­nieren – passen einfach nicht zusam­men, lassen sich nicht greifen. In den Debatten um den wirt­schaft­lichen und sozialen Wert von Design ändern sich die Bedeut­ungen und ein schneller Wechsel von Vorder- und Hinter­grund hinter­lässt mit­unter Gefühle von Verwir­rung, Frustra­tion und Über­forder­ung. Zusam­men­hänge lassen sich manch­mal besser erkennen, wenn wir aus dem Gewirr heraus­treten und dabei gleich­zeitig einzelne Kompo­nenten genauer betrach­ten. So gewinnen wir neue Perspek­tiven und können Vorder­gründiges von Hinter­gründigem trennen. In der Film­sprache nennt man diese Bewegung ‚Dolly-Zoom‘ oder ‚Vertigo‘.

Aus den Erfahrun­gen mit anderen, ähnlich polari­sieren­den gesell­schaft­lichen Themen (zum Beispiel der Gleich­stell­ungs­de­batte), kann man ab­leiten, dass das Repro­du­zieren von mehr­deutiger, unge­nauer Sprache auch im Design über Jahr­zehnte eine pseudo­produk­tive Debatte hervor­ge­bracht hat. In der Werte­diskus­sion ist eine ‚verwirrende‘ Situation ent­standen, die sich viel zu lang­sam in Richtung Klar­heit und realis­tische Anspruchs­haltun­gen der Be­teilig­ten wandelt. Besteht die Möglich­keit, dass unprä­zise Sprache und ungeklärte Kausal­zusam­men­hänge mangelndes Problem­bewusst­sein und Herr­schafts­ver­hält­nisse in einer unre­flek­tierten Dauer­schleife konservieren?

 

Zoom-in — Designer*innen
Werte, welche Werte?


Für Akteur*innen der Kreativ­wirt­schaft sind begriff­liche Un­schärfen der Normal­fall. Wesent­liche Teile der Tätig­keiten von Gestalter­*innen finden im Verbor­genen statt und werden kaum oder gar nicht zur Sprache gebracht. Intuition und Bauch­gefühl bilden oft die Grund­lage für Ent­scheidun­gen und lassen sich kaum in Worte fassen. Tatsäch­lich scheint es so, als ob eine klare Sprache für Designer­*innen nicht unbe­dingt not­wendig ist. Sie kommen auch ohne expli­zites Wissen oder präzise Aus­drucks­weise aus und müssen selten Aus­kunft über ihre Tätig­keit geben. Das Ergeb­nis zählt. Durch diesen Mangel an Sprache fällt es vielen Gestalter­*innen schwer, genau zu be­schreiben, was sie tun. Sie nehmen sich damit die Möglich­keit, dies kritisch zu hinter­fragen. Manch­mal gestehen sich Ge­stalter­*innen selbst nicht ein, dass sie mit den wissen­schaft­lichen Bezügen ihrer Dis­ziplin über­fordert sind. Es bleibt unklar, welche stra­te­gischen Werk­zeuge den kreativen Prozess am besten abbil­den und wie diese Wirk­ung entfalten. Viele Krea­tive können nicht verbali­sieren, worin der Wert ihrer Arbeit besteht (Haas; Lobinger 2012). Anstatt sich mit dieser Verun­sicher­ung (auch öffent­lich) aus­ein­ander­zu­setzen, ziehen es manche Gestalter­*innen vor, sich zurück­zu­halten und andere über Werte sprechen zu lassen.

Um genderspezifische Einkommensunterschiede zu verdeutlichen, wurde ein gläsernes Sparschwein in Glyzerin eingetaucht. Dabei wird es aufgrund ähnlicher Lichtbrechung zur Hälfte unsichtbar. Bild © Johanna Wicht

Sprachgewandte Vertreter­*innen findet man an den Schnitt­stellen von Praxis und Theorie. Eine Viel­zahl von Ansätz­en wie ‚Critical Design‘, ‚Social Design‘, ‚Speculative Design‘, ‚Human Centred Design‘ oder ‚Value-based Design‘ sind ent­standen. Von Designer­*innen ent­wickelt, betonen sie die Rolle von Design als Werk­zeug zur kritischen Aus­ein­ander­setz­ung und spiegeln den Willen und die Fähig­keit der Branche wider, sich sozialen, kultur­ellen und ethischen Wider­sprüchen zu stellen und besteh­ende Kon­ven­tionen kritisch zu hinter­fragen. Die Ausein­ander­setz­ungen sind von einer wissen­schaft­lichen Sprache geprägt und knüpfen thematisch an die uni­versitäre Forschung an. Die Akade­misierung der Branche zielt aber nicht nur auf die Ver­bes­ser­ung der ästhet­ischen Gestaltungs­kom­petenz ab, sondern erweitert auch den Spiel­raum, die Aus­wirkungen von Design auf soziale, öko­nomische und öko­logische Systeme zu reflek­tieren und zu steuern. Zweifellos sind diese Bezugs­punkte für Designer­*innen unver­zicht­bar, die Ausein­ander­setzung bleibt aber oft nur ‚Begleit­musik‘. Im Bildungs­kon­text wird häufig an das soziale Engage­­ment appel­liert, indem ästhet­ische Über­legun­gen mit einem ausge­prägtem sozialen Bewusst­sein ver­knüpft werden. Jenseits der Hoch­schulen ist der Ein­fluss jedoch be­schränkt. Das Ein­tauchen in diese Themen allein ist also keine Lösung für das „Sprach­problem“ der Designer­*innen. Was aber noch schwerer wiegt: Der Wirkungs­grad von Projekten, die in diesen reflek­tierten Um­feldern ent­stehen, ist für eine gesell­schaft­liche Außen­wirkung vernach­lässigbar gering.

 

Zoom-out — Designer*innen
Do, What You Love


Betrachtet man Designer*innen durch eine „soziolo­gische Brille“, dann wird schnell klar, dass die zum Thema „Werte“ gehörenden Ambi­gui­täten und Unschärfen besonders gut zur Sozial­figur der Creative Class (Florida 2012) passen: die Bobos. Die bourgeoisen Bohemiens (Brooks 2000), die in einem Werte-Kontinuum zwischen materi­ellem Wohl­sein und moralischem Gutsein leben. Sie wollen alles: ‚Purpose‘, ‚Passion‘ und ‚Success‘. Der Spagat zwischen moralischer Selbst­genüg­sam­keit und wirt­schaft­lichem Erfolg erfordert aber Dehn­barkeit und Flexibilität.

„Man hat einen gesell­­schaft­lich rele­­vanten Beruf, der gleich­zeitig wirt­­schaft­­lichen Wert hat.“

Eine gängige Erzähl­ung besagt, dass man Design­er­*in wird, weil man in der Lage ist, Wider­sprüche mühe­los in Ein­klang zu bringen. Der Beruf wird als beson­ders attrak­tiv beschrieben, da er einer der wenigen sei, bei dem es sich finan­ziell lohnt, mit sich selbst in Kontakt zu sein, reflek­tiert und intui­tiv zu handeln. Es wird betont, dass man in diesem Beruf nicht nur persön­lich erfüllt sei, sondern auch einen gesell­schaftlich bedeut­samen Bei­trag leiste, der zu­gleich wirt­schaft­lichen Wert hat. Trotz inten­siven Engage­ments und auf­wen­diger Aus­bildung, oft sogar eines Studiums, gerät man gelegent­lich in prekäre Situ­atio­nen. Da man aber für das lebt, was einem wichtig ist, wird das gedul­dig hinge­nom­men. Schließ­lich trägt man als Designer­*in gesell­schaft­liche Verant­wort­ung. Design hat zweifellos das Poten­zial, Welt­bilder zu ver­mitteln und damit die Welt, in der wir leben, zu beein­flussen. Gelingt es den Prota­gonist­*innen der Kreativ­wirt­schaft nicht, eine Erwerbs­bio­grafie in dieser Unsicher­heit zu leben, liegt die Verant­wort­ung dafür bei ihnen selbst (Reckwitz 2012).

 

Halbtotale — Auftraggeber*innen
Der Impact-Faktor von Design


Zusätzlich zur sozio­logischen Per­spek­tive wagen wir einen Blick durch die öko­nomische Linse. Die Wert­schöpfung der Kreativ­wirt­schaft ist beacht­lich. Laut einem Bericht der Initi­ative Kultur- und Kreativ­wirt­schaft des Bundes zu Spill­over-Effekten (Södermann 2018) – also indirekten Aus­wirkun­gen auf die Wert­schöpfung – wird der jähr­liche Beitrag der Design­wirt­schaft zur Gesamt­wirt­schaft in Deutsch­land auf beein­druckende 42 Milliarden Euro geschätzt. Die Kompetenzen von Designer­*innen stellen einen immensen Wirtschaftsfaktor dar.

„Die Kompetenzen von Designer*innen stellen einen immensen Wirtschaftsfaktor dar.“

Der Begriff ‚Werte‘ hat hier eine gänz­lich andere Bedeut­ung: Aus diesem Blick­winkel stehen Um­sätze, Wachstum, (wirt­schaft­liche) Nach­haltig­keit und Human­kapital im Vorder­grund. Auftrag­geber­*innen erwarten konkret mess­bare Ergeb­nisse. Im wirt­­schaft­lichen Kon­text definiert sich der Wert durch Ziel­erreichung. Die Aktivi­täten der Kreativ­branche schaffen Absatz­märkte, wo zuvor keine existierten. Eine klare Ab­bildung dieser Einfluss­faktoren des Designs und die Schaffung strategischer Klar­heit sind von ent­scheidender Bedeut­ung für faire Geschäfts­beziehungen zwischen Designer­*innen und Auftrag­geber*innen.

Möglichkeiten, den Wert von Design zu messen, bietet die Wirkungs­forsch­ung. Gemes­sen wird, ob, wie schnell und wie intensiv die inten­dierte Wirk­ung ein­setzt. Dafür stehen unter­schied­liche quali­tative und quanti­tative Methoden zur Ver­fügung (Haas; Lobinger 2012, Kirst 2023). Das Ver­sprechen dahinter ist, dass der markt­wirt­schaft­liche Wert kreativer Arbeit planbar, abbild­bar und der Erfolg mess­bar wird. Dabei geht es neben Auf­merk­sam­keit auch um Über­zeugung oder Memo­ra­bilität als relevante Währungen.

Auch aus diesem Blick­winkel stellt sich das ein­gangs erwähnte Sprach­problem: Die Zu­gänge sind viel­fältig und von wissen­schaft­licher Sprache geprägt. Im Rahmen eines Design­studiums ist eine um­fassende Ver­mitt­lung der kom­plexen Zusam­menhänge in begleiten­den Lehr­ver­an­stalt­ungen nur mög­lich, wenn diese nicht abge­koppelt von der Praxis gelehrt werden.

 

Pan-Out – Designer*innen : Auftraggeber*innen
Sprachlos im Kreativitätsdispositiv


„Eigentlich hab’ ich ziemlich viel Erfolg, aber für mich fühlt sich’s an wie Scheitern.“ (Deich­­kind 2019). Die aus der Werbe­szene stammen­den Musiker der Gruppe Deich­kind bringen das Lebens­gefühl einer ganzen Branche auf den Punkt: Trotz der enormen Impuls­kraft für die gesamte Wirt­schaft domi­nieren atypische Arbeits­ver­hält­nisse und prekäre Ein­kommens­situa­tionen die Mehr­zahl von Designer­*innen­karrieren (Manske 2009). Es offen­bart sich eine dis­proportio­nale Beziehung zwischen Auf­trag­geber­*innen und Auf­trag­nehmer­*innen, die im All­tag so fest­gefahren scheint, dass eine baldige Lösung dieser Schief­lage nicht ab­sehbar ist. Die von Andreas Reckwitz formu­lierten Über­legun­gen zum „Kreativi­täts­dispositiv“ (Reckwitz 2012) liefern hierfür eine funktio­nale Arbeits­hypo­these. Das Kreativi­täts­dispositiv beschreibt, wie Kreati­vität zu einem zen­tralen Wert und einer Schlüssel­ressource in modernen Gesell­schaften geworden ist. Es umfasst ver­schiedene Aspekte wie Bildungs­sys­teme, Arbeits­märkte, kultur­elle Produk­tion und Kon­sum und hebt hervor, wie Kreati­vität zu einem ent­scheiden­den Faktor für indi­vidu­ellen und gesell­schaft­lichen Erfolg geworden ist. Damit hängt die Vor­stell­ung zu­sam­men, dass Ver­gütung für kreative Dienst­leistun­gen nicht nur mone­tär sein muss, sondern „das Privi­leg kreativ sein können“ schon eine Ver­gütung ideeller Natur darstellt (Manske 2021).

In Kombination mit der unter­ent­wickelten sprach­lichen Aus­drucks­fähig­keit der Kreativen ent­steht ein folgen­schwerer Effekt. Dieser spielt für eine Viel­zahl von Erwerbs­tätigen eine existen­ziell ent­scheidende Rolle. Das Problem, das daraus er­wächst, ist, dass Designer­*innen den Wert ihrer Leistun­gen nicht aus­reichend benen­nen können. Um den direkten Zusam­men­hang mit ihrer Arbeit als über­zeugendes Argu­ment für den Ver­kauf ihrer Ressour­cen nutzen zu können, benötigen Designer­*innen Ein­blicke in die Trick­kiste der Über­zeugungs­kunst, die sie zwar intu­itiv perfekt beherr­schen, aber nicht strategisch anwenden.

„Sauerei“ zeigt, dass selbstständige männliche Designer jährliche Gesamteinkünfte von 50.000 Euro erzielen, während ihre weiblichen Kolleginnen nur die Hälfte (25.000 Euro) einnahmen. Bild © Johanna Wicht

Zoom in – Designer*innen : Rezipient*innen
Gaslighting als Dauerzustand


Noch einmal wollen wir die Per­spek­tive wechseln und ab­schließend auf das Ver­hält­nis von Designer­*innen zu Rezipient­*innen blicken. Die gestaltete Kom­muni­kation in unserer medialen Um­welt ist hoch­gradig effek­tiv. Sie ist persu­asiv, ohne dass Gestalter­*innen über das Zustande­kommen der Wirk­ung differen­ziert Aus­kunft geben können. Durch lang­jährig erwor­bene gute Praxis und erfahrungs­ge­sättigte Intu­ition (Heinen 2008) hat sich eine operativ hoch­effi­ziente Branche heraus­ge­bildet, die nicht in der Lage ist, über ihr Tun zu reflek­tieren. Das Studium der visu­ellen Kommuni­kation repro­duziert stabil und wieder­holbar die vom Markt geforderten, impliziten Fähig­keiten von Gestalter­*innen. Mit allen visu­ellen Tricks wird an der Auf­merk­sam­keit der Rezi­pient­*innen gezerrt, Rele­vanz vorge­täuscht und „Abwehr­mecha­nismen“ unter­wandert. Der Manipu­lation zu wider­stehen, ist beinahe unmöglich.

Gestalter*innen zielen dabei darauf ab, die Ent­scheidun­gen von Menschen zu beein­flussen. Nach einge­übten Mustern gestaltete Arte­fakte erhöhen die Wahr­schein­lich­keit, dass eine gewünschte Wirk­ung auch tat­sächlich ein­tritt. Ob als ‚nudging‘ (Bröckling 2017) oder ‚priming‘ (Kahneman 2012) oder einfach als Weg­weiser: Design nimmt Ein­fluss auf Ent­scheidungen, die wir treffen. Bilder nehmen dabei als Über­zeugungs­mittel eine ganz beson­dere Stell­ung ein. Visu­elle Kom­muni­kation kann Rezipient­*innen über­zeugen, sich gegen ihre üblichen Routinen zu ent­scheiden. Davon bleiben auch grund­legende Werte der Rezipient­*innen nicht unbe­rührt. Designer­*innen werden genau dafür bezahlt: mit visu­ellen Mitteln zu be­ein­flussen, zu über­zeugen, zu manipulieren.

Für diese Mani­pula­tionen sind so­wohl Auftrag­geber­*innen als auch Auftrag­nehmer­*innen verant­wortlich. In Zusammen­hang mit dem Thema „Werte“ eröffnet sich damit eine gänz­lich neue Dimension. Und viele Gestalter­*innen nehmen diese Verant­wortung auch bewusst wahr. So hört man häufig, dass man sich aus ethischen Gründen gegen den einen oder anderen Auf­trag ent­schieden hat, weil man nicht gegen die eigenen ‚Werte‘ handeln und kein Erfüllungs­gehilfe sein möchte. Durch die häufig schwierige wirt­schaft­liche Lage einer Vielzahl von Kreativ­schaffen­den finden auch Aufträge, die sehr deutlich von Moral­vor­stell­ungen der Bran­che ab­weichen, aus­reichend viele Auftrag­nehmer*innen.

 

Zoom-in – Designer*innen : Rezipient*innen
Design wirkt, aber niemand weiß genau wie


In der Beziehung zwischen Designer­*innen und Rezipient­*innen entsteht nun ein doppeltes Dilemma: Bobo-Designer­*innen wollen nach eigenen ethischen Vor­stell­ungen der Gesell­schaft zuge­wandt handeln, produ­zieren aber als Markt­teil­nehmer­*innen für ihre Auftrag­geber­*innen hoch­wirk­same und mani­pula­tive Über­zeugungs­narra­tive, von denen sie selbst oft nicht sagen können, wie und warum sie wirken.

Rezipient*innen auf der anderen Seite sind als Teil der Gleichung ebenso ge­fordert, eine Sprach­­­fähi­gkeit bezüg­lich visu­eller Phäno­mene zu ent­wickeln (visual literacy). Auf beiden Seiten ent­steht eine Black Box. Als Gesell­schaft sind wir gegen­über der Wirk­macht von Bildern viel inkompe­tenter, als wir zu­geben können. Wir sind der Wirkung von Visu­ellem hilf­los ausge­liefert. Irgendwie sind wir in der Lage, manipu­lative Bilder zu formu­lieren, aber außer­stande, diese zu deko­dieren. So wird auch die Verant­wortung von Designer­*innen und Rezipient­*innen klar: Um an einem Diskurs über Werte teil­zu­nehmen, muss es eine Sprache für die Form geben.

Frauen sind in den höheren Umsatzklassen immer noch so gut wie unsichtbar. „Big Flex“ macht anhand eines Fitnessbands erlebbar, welche Kraftanstrengungen aufgebracht werden müssen, um als Frau sichtbar zu werden. Bild © Johanna Wicht

We can be heroes

Design ist politisch. Das bringt Verant­wort­ung mit sich. Blickt man auf die Beiträge zum DDC DESIGN DISKURS, fallen viele wichtige Beiträge zur Diskus­sion um die Zukunft unserer Branche und – viel­leicht noch wichtiger – Haltun­gen auf, die demo­kratisch und welt­offen sind. Es gibt breites Bewusst­sein dafür, wie Gestalter­*innen unsere Gesell­schaften mit­formen. Es gibt Beispiele guter Praxis und Forder­ungen nach mehr Verant­wortungs­bewusstsein.

„Es geht um eine allgemeine
Bild-Bildung unserer Gesellschaft.“

In diesem Beitrag möchten wir einen Schritt weiter gehen. Wir sind der Meinung, dass Ge­stalter­*innen Arte­fakte erschaffen, die besonders starke Aus­wirkun­gen auf unsere Lebens­welten haben. Dies birgt eine oft über­sehene Verant­wortung. Es geht um Mündig­keit, ver­standen als Unab­hängig­keit, die Fähig­keit zur Selbst­be­stim­mung und Eigen­verant­wort­ung, die wiederum Sprach­fähig­keit vor­raus­setzt. Wir finden, dass Gestalter­*innen ver­pflichtet sind, mehr Bewusst­sein gegenüber den Wirkun­gen ihrer Arbeit zu ent­wickeln. Funktio­nale Zusam­men­hänge, die zur Über­zeugung bis hin zur Manipu­lation des Ziel­publi­kums führen, müssen struktur­ell wesent­lich besser durch­schaut werden können. Das bringt eine bessere Ver­hand­lungs­situ­ation gegen­über Auf­trag­geber­*innen und ver­bes­sert die Ein­kommens­situ­ation von Designer­*innen. Es geht um eine allge­meine Bild-Bildung unserer Gesell­schaft. Eine Konse­quenz davon wäre die Stärkung sowohl der Sender­*innen als auch der Em­pfänger­*innen. In einer Gesell­schaft, die Schwierig­keiten im Umgang mit Bildern hat und in der bild­basierte Medien die Mein­ungs­bildung maß­geblich beein­flussen, tragen Designer­*innen eine Mit­verant­wort­ung, die visuelle Kompe­tenz sowohl bei der Produk­tion als auch bei der Rezep­tion zu fördern.

Seit über einem Jahr­zehnt forschen wir an Methoden zur Förder­ung visu­eller Kompe­tenz, in­dem wir Rhetorik als Grund­lage von Design betrachten und zukunfts­orien­tierte Design-Studien­pro­gramme ent­wickeln (Kirjuchina, Grundnigg 2022). Dabei legen wir methodische Struk­turen frei, die helfen, Wirkur­sachen zu erkennen. Dies schafft eine Kanoni­sierung wissen­schaft­licher Theorien zur visu­ellen Kommuni­kation und verrin­gert damit die Un­durch­schauba­r­keit der Bild­produk­tion und -rezeption. Eine enge Ver­bindung von Gestalt­ungs­theorie und -praxis ist die Folge – ähnlich einem antiken Theorie­gebäude, das praxis­orien­tierte Werk­zeuge für die Gestalt­ung bereit­stellt. Rhetorik dient als struktur­gebendes Gerüst für die Kon­zeption, Gestalt­ung und Mediali­sierung von Über­zeugungs­narra­tiven. Durch die Inte­gration von Rhe­tor­ik in die Gestalt­ung entsteht ein „Begriffs­apparat“, der Handlungs­zusammen­hänge und Vokabu­lare mani­festiert. Eine gemein­same Sprache erleichtert den Dialog zwischen Produzent­*innen und Re­zipient­*innen und die neu gewonnene Schreib- und Lese-Kompe­tenz wird zu einem wesent­lichen Bestand­teil visueller Bildung.

„Mood Killer“ behandelt Totschlagargumente, die oft in Diskussionen zur Gleichberechtigung fallen. Bild © Johanna Wicht

Manche Praktiker*innen befürchten wahr­schein­lich, dass das oben Formulierte zu theoretisch sei. Zu viel Theorie und zu starker Fokus auf Reflexions- und Sprach­fähig­keit würden ‚ver­kopf­te‘ Design­lösungen her­vor­bringen, die nicht für sich sprechen können. Dem kann jedoch in aller Deut­lich­keit wider­sprochen werden. Das aktuelle Curriculum des Fach­bereichs Kommuni­kations­design der Fach­hoch­schule Salz­burg fußt auf Rhetorik als Referenz­rahmen für Design­theorie. Die Qualität der gestalter­ischen Arbeiten, die derzeit ent­stehen, ist heraus­ragend. Das erste Mal seit Bestehen des Fach­be­reichs wurde beim wichtigsten Kreativ-Wett­bewerb Österreichs, dem CCA Award ‚Student of the Year‘, eine Arbeit mit Gold prämiert. In Deutsch­land haben Studierende des Fach­be­reichs Kom­muni­kations­design den bedeuten­den Nach­wuchs­wett­be­werb für Krea­tivi­tät des Art Directors Club Germany mit zwei ‚Grand Prix‘ und sechs ‚Goldenen Nägeln‘ über­ragend ge­wonnen. Lehr­konzepte, wie das oben beschriebene, unter­stützen nicht nur heraus­ragende Nach­wuchs­talente, sondern auch Designer­*innen, die über eine erweiterte visuelle Kompe­tenz und ein ausge­prägtes strategisches Verständnis verfügen.

 

Wert–Schätzung

Die unterschiedlichen Perspek­tiven auf das Jahres­thema des DDC geben uns eine Vor­stellung davon, dass Werte ganz unter­schiedlich ver­standen, geschätzt und diskutiert werden. Das ständige Wechseln der Ebenen sorgt manchmal für Miss­ver­ständ­nisse. Immer wieder entgleitet das Kern­thema, an dem man schon so nahe dran war. Das ist der ‚double-bind Charakter‘ der Bobo-Fantasie, die sich an beiden Enden nicht ein­lösen lässt. Wenn wir unsere ethischen Werte leben, haben sie oft keinen ökonomischen Wert.

Als Handlungs­räume zur Inte­gration beider Werte-Dimen­sionen, sehen wir zum einen die Vermitt­lung von Bild­kompetenz ganz allge­mein (visual literacy) und zum anderen das Studium der Wirkungs- und Funktions­zusam­men­hänge (visuelle Rhetorik) für Designer­*innen. Wir finden, dass in Anbe­tracht der Wirk­macht von Design, alle Markt­teil­nehmer­*innen von den Kennt­nissen der wesentlichen Mecha­nis­men profitieren würden.

Die Bilder zu unserem Beitrag stammen alle aus der Aus­stell­ung „IN*VISIBLE“ von Johanna Wicht und Christine Poplavski. Die von Studierenden gestaltete Aus­stell­ung, die im Sommer 2022 an der FH Salz­burg ge­zeigt wurde, macht unsicht­bare Pro­bleme von Frauen und anderen unter­reprä­sen­tierten Designer­*innen in Öster­reich sicht­bar. Die viel beachtete Aus­stellung hat die Fach­welt begeistert. Wir fragen ganz provo­kant: Ent­stehen solche Projekte auch außer­halb von Hoch­schulen? Mit Aussicht auf das nächste Jahres­thema des DDC könnten wir uns zum Beispiel „Who would have paid for it?“ vor­stellen. Es erscheint uns sinn­voll, der Frage nachzu­gehen, wie wir sicher­stellen können, dass wichtige gesell­schaft­liche Themen von Designer­*innen auch profes­sio­nell und syste­matisch für die Allge­meinheit formu­liert werden können.

Referenzen

Brooks, D. (2000): Bobos in Paradise. The New Upper Class and How They Got There. Ort: New York: Simon & Schuster

Bröckling, U. (2017): Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp

Bürdek, B. E. (2022/4): Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung. Basel: Birkhäuser

Deichkind (2019): Quasi (Featuring Jan Böhmermann & Olli Schulz). Wer sagt denn das? Berlin: Sultan Günther Musik

Haas, H.; Lobinger, K. (2012): Qualitäten der Werbung. Qualitäten der Werbeforschung. Köln: Herbert von Halem

Heinen, U. (2008): Bildrhetorik der Frühen Neuzeit – Gestaltungstheorie der Antike. Paradigmen zur Vermittlung von Theorie und Praxis im Design.  In: Joost, G.; Scheuermann, A. Hrsg. (2008): Design als Rhetorik. Basel: Birkhäuser

Kahneman, D. (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler

Kaiser, A. (2023): Woke und wütend. In: PAGE, 06.23. Hamburg: Ebner Media Group. Onlinequelle

Kirjuchina, V.; Grundnigg T. (2022): Visuelle Rhetorik zwischen Theorie und Praxis. In: Allerkamp, A. et al. Hrsg. (2022): Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch. Band 41: Friedrich, V. Hrsg.: Angewandte Rhetorik. Berlin: DeGruyter

Kuhn, T. S. (2001/1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Berlin: Suhrkamp

Manske, A. (2009): Unsicherheit und kreative Arbeit. Stellungskämpfe von Soloselbständigen in der Kulturwirtschaft. In: Castel, R.; Dörre, K. (2009): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt: Campus

Manske, A. (2021): Vom Geben und Nehmen in einer Designagentur. Gefühle als betriebliche Währung in der Kreativökonomie. Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, 22.1. Baden-Baden: Nomos

Reckwitz, A. (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp

Södermann, M. (2018): Dossier Spillover-Effekte und die Rolle der Kultur- und Kreativwirtschaft. Ausgewählte Positionen im Überblick. Berlin: Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes. Onlinequelle


Thomas Grundnigg und Viktoria Kirjuchina, Bild © Johanna Wicht

Viktoria Kirjuchina und Thomas Grundnigg

haben sich bei ihren Forschungen zu Funktions­zusam­men­hän­gen und Wirkun­gen von Design kennen­ge­lernt, wobei sie sich in sprach­wissen­schaft­liche Theo­rien und Kognitions­forsch­ung ver­tieft haben. Sie ver­fügen über zwei kom­ple­men­täre, aber an­schluss­fähige Berufs­pro­file (beide mit über 20 Jahren Design­praxis) und haben sich inhalt­lich inten­siv ausge­tauscht (über 15 Jahre in Lehre und Forsch­ung). Viktoria ist Kam­pagnen-Design­erin und leitet an der Fach­hoch­schule Salz­burg den Fach­bereich Kom­muni­kations­design. Tom war ebendort Pro­fessor für Manage­ment und leitet jetzt Design Thinking-Pro­gramme am Hasso-Plattner-Institut der Uni­versi­tät Pots­dam. Die beiden begannen, inten­siv über wünschens­werte Zukünfte der Design­branche und eine dringend nötige Weiter­ent­wicklung des De­sign-Studium nach­zu­denken. Sie fordern sich gegen­seitig heraus, aus einge­schliffenen Denk­mustern auszubrechen.