Für das neue „Experience Center“ von PricewaterhouseCoopers haben die Innenarchitekten von Coast aus Stuttgart, unterstützt von George P. Johnson Marketing und der Agentur CPP Studios aus Offenbach, einen Multispace mit Zonen für dynamische Team- als auch konzentrierte Einzelarbeit geschaffen. Unternehmensberater*innen und Kund*innen können dort an innovativen Ideen arbeiten und dabei Virtual Reality, Eye Tracking oder 3D-Druck einsetzen. (Bild © David Franck)

DESIGN DISKURS

Georg-Christof Bertsch ist Unternehmens­berater für Positio­nierung und Change, Honorar­professor für inter­kultur­elles Design und Mit­glied des fünf­köpfigen Beirats des DDC. Neben den geschäft­lichen Nöten sieht Bertsch in der Corona-Krise allerdings auch ein großes Potenz­ial für die Design-Branche. So rät er Designer­*innen, sich mit der Trans­formation in eine grüne Ökonomie und mit neuen Technologien zu befassen. Vor allem aber brauche es innerhalb der Disziplin endlich einen generellen Diskurs, der die gesell­schaft­liche Rele­vanz von Design in den Fokus rücke.

Veröffentlicht am 29.05.2020

Professor Georg-Christof Bertsch, porträtiert von seiner Tochter Marie Anny Bertsch vor einem Ausschnitt aus der Arbeit „fiori/tropicali“ (2012) aus der Vektorgraphic-Serie von Gruppo Scaiano. (Bild © Marie Anny Bertsch)

Der Corona-Effekt auf Systemebene

Als Professor, im Beirat des DDC und Berater beschäftigst du dich mit Themen wie System-Theorie, Change, Organisations­ent­wicklung, Nach­haltigkeit, Digi­tali­sierung und interkulturelles Design. Du hast Deine Sensoren also in vielen Gesell­schafts­bereichen aktiv. Blicken wir in die Design­welt: Welche Ver­schie­bungen auf systemischer Ebene ergeben sich dort aktuell durch die Corona-Krise?

Georg-Christof Bertsch: Als auffälligstes Phänomen der bisherigen Krise zeigt sich die un­geheure Selbst­verständ­lichkeit, mit der der Staat Vieles in die Hand nimmt. Spätestens seit den 1980er Jahren, mit dem Auf­kommen des Neo­libera­lismus, forderten manche regel­recht die Ab­schaffung des Staates. Das mache alles der Markt. Jetzt sieht man, unter diesen besonderen Bedingungen, dass dieser Markt zum Schutz der Gesell­schaft wenig beiträgt. Das ist die wichtigste Erkenntnis für mich und auch für uns als Design­szene. Dass wir sehr viel stärker auf die Gesell­schaft schauen müssen und nicht auf die Wirt­schaft. Die Wirt­schaft ist ein Teil der Gesell­schaft und die Gesell­schaft ist Teil der Natur. Genau in dieser Reihenfolge.

Welche Entwicklungen sind für die Design-Disziplin positiv zu werten? Welche weniger?

Bertsch: Schwierig für das Design war bereits vor der Krise, dass es nicht sagen kann, was es will. Dem Design fehlt eine Sinn­orientier­ung. Dadurch ist die Design-Branche letztlich auf die Funktion einer Dienst­leistung beschränkt. Eine wirt­schaft­liche Leistung, die, wenn eine wirt­schaft­liche Krise kommt, weg­fällt. Dadurch stehen wir als Designer­*innen mit dem Rücken zur Wand. Wir haben keine gesell­schaftlich rele­vanten Argu­mente. Es scheint, dass man auf Design ver­zichten kann. Wir gelten nicht als system­relevant. Wir könnten jedoch viel mehr auf die Ver­knüpfung, Ver­bindung und Kommuni­kation zwischen Systemen hin­arbeiten. Über die dazu nötigen kreativen Fähig­keiten verfügen Designer­*innen doch ganz selbst­ver­ständlich.

Dann fragen wir nach dem Sinn: Wieso brauchen wir als Gesellschaft Design?

Bertsch: Wir haben mit den neuen politischen Rahmen­beding­ungen, insbesondere durch den EU Green Deal und die 17 Nachhaltig­keits­ziele der Vereinten Nationen, eine voll­ständige Trans­formation der Wirt­schaft vor uns. Das ist eine Aufgabe, an der in allen Auf­bau­szenarien nicht ge­zweifelt wird. Das heißt für uns Designer­*innen, dass der EU Green Deal für uns ein relevantes Rahmen­werk dar­stellt, in Folge dessen die gesamte Wirt­schaft, damit auch die Produkt­welt und die Kommunikation komplett neu auf­gebaut werden müssen. Eine riesige Auf­gabe. Hier gibt es eigentlich Sinn in Hülle und Fülle. Die Breite unserer Diskussion darüber ist jedoch noch recht kläg­lich, nicht nur im Design, auch in der Architektur.

„Wie beschreiben wir die gesell­­schaftliche Relevanz von Design?“

Wir stehen jetzt vor einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Scheid­eweg: Es könnte sein, dass wir den Weg in die Trans­formation nehmen. Der andere wäre zurück in die alte Normalität – was sich ja auch nicht Wenige wünschen.

Bertsch: Wir haben nicht nur den EU Green Deal, sondern ein Bewusst­sein auch in den anderen hoch­entwick­elten Regionen – bis auf die traurige Ignoranz der US-Regierung. Aber selbst in der US-Gesell­schaft gibt es ein klares Bewusst­sein dafür, dass diese Trans­formation gar nicht zu ver­meiden ist. Die Frage ist nur: Wie gehen wir nach vorne? Ich finde daher den Begriff „Das neue Normal“ gut. Im Rahmen dieser groß­flächigen Trans­formation wird diese ganze petrol­basierte Öko­nomie nicht mehr funktio­nieren. Das sieht man jetzt bereits schon. Was heißt das für uns? Auf der Negativ­seite haben wir eine nicht abschätz­bare Krise, von der öko­nomischen Trag­weite als auch von der Dauer her. Auf der positiven Seite kann man davon ausgehen, dass der Weg in eine deutlich grünere Ökonomie hinführt. Und da wird Design, Gestaltung und Archi­tektur in vieler­lei Hinsicht benötigt.

Das macht Sinn: „Little Sun Diamond“ von Olafur Eliasson versorgt in infrastrukturell schwachen Regionen in Afrika Menschen mit solarbetriebenem Licht. (Bild © Thabo Metsing)

Was passiert aber mit den Bereichen, die in einem „neuen Normal“ nicht mehr gebraucht werden? Wie der petrolbasierten Ökonomie, der Autoindustrie und der Luftfahrindustrie? Dann geht es uns zwar ökologisch besser, aber ökonomisch nicht ...

Bertsch: Das ist jetzt eine Trans­formation wie viele zuvor. Die Trans­formation der Haus­weberei zur Maschinen­weberei war im 19. Jahrhundert von furchtbaren Hungers­nöten begleitet. Als in New York die petrol­basierten Auto­mobile eingeführt wurden, war dies mit der schlag­artigen Arbeits­losigkeit von 25.000 Kutschern verbunden. Das sind schlimme aber un­vermeid­bare Side­effects. In der Luftfahr­branche werden massen­haft Leute arbeits­los werden. Das ist über­haupt nicht zu vermeiden. Es wird keiner mehr für ein ein­stündiges Business­gespräch in den Flieger steigen. Durch die paar Wochen im Umgang mit den neuen Technologien ist ein derartiger Schub der Digi­tali­sierung durchs Land gegangen, dass manches nicht mehr zurück­gedreht werden kann.

Aber gewinnen wir auch auf der anderen Seite?

Bertsch: Ein System reorganisiert sich konstant neu. Wenn es einen Schaden hat, wird sich das selbst ergänzen. Das ist das natürliche Gesetz der so genannten bio­logischen Auto­poiesis. Wenn an einer Stelle relevante Wirtschafts­teile weg­fallen, wird es an anderen Stellen neue geben. Für Viele ist das, zumindest vorüber­gehend, nicht angenehm.

 

Der Corona-Effekt auf Wohnen und Arbeiten

Zusammen mit Peter Eckart und Kai Vöckler hast Du 2013 das Design­institut für Mobilität und Logistik an der HfG Offenbach gegründet. Ihr fordert unter anderem, dass Stadt­planung und Mobilität neu zusammen gedacht werden müssen, zum Beispiel indem Arbeiten und Wohnen näher zusammen­kommen. Wenn wir die jetzige Situation be­trachten, hat sich doch einiges getan: Wir arbeiten im Home­office, die Pendelei ist auf­gehoben und wir meeten per Video ...

Bertsch: Die im Schnitt Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohn­ungen sind zu klein, um das ab­zubilden, was wir aktuell brauchen. Sie sind auch zu klein für ein Mehr­generationen­wohnen. Da bedarf es genau unserer Leute, nämlich der Architekt­*innen und Designer­*innen, um künftige Wohn- und Arbeits­typo­logien zu ent­wickeln, die dies sinn­voll er­möglichen. Die klassische Designer­*innen- und Architekt­*innenen­fantasie eines großen offenen Raumes ist völlig un­brauch­bar für eine Kombination aus Arbeiten und Wohnen mit Familien.

Wie können solche neuen Arbeits- und Wohn­formen aussehen? Vielleicht kannst Du das einmal anhand einer Design­agentur mit über 200 Mitarbeitern durchdeklinieren ...

Bertsch: Die Team­arbeit könnte man in einer Kombination von Home- und Gemein­schafts­office variabel gestalten: Ein Teil der Projekt­arbeit passiert im Home­office, ein Teil in einem kleineren Büro vor Ort zusammen, etwa in einem Co-Working-Space. Dann braucht man aber diesen großen zusammen­hängenden Raum nicht mehr. Ich würde einer Agentur daher raten: Schaut euch genau an, wie ihr strukturiert seid und überlegt euch auf dieser Basis, wie das räum­lich flexibler organisiert sein, wie man Teams dynamisch und flexibel aus­gliedern und wieder ein­gliedern kann. Es gibt aktuell tolle Ansätze und technische Lösungen dafür. In den neuen flexiblen Office-Flächen kann man mit Alkoven arbeiten, die innerhalb eines Raumes privatere Räume schaffen, wie das Hersteller wie Vitra vorschlagen.

Da wir aber diese räumlichen Situationen noch nicht haben, wünschen sich auch wahrscheinlich viele wieder zurück an den Arbeitsplatz zu gehen.

Bertsch: Sicher. Vor allem ist das jetzt ein Learning für die Arbeit­geber­*innen. Diese konnten sich bislang nicht vorstellen, die tägliche Einfluss­nahme und Kontrolle ohne Präsenz aus­zuüben. Da zeigt sich aber ein komplett veraltetes Führungs­denken. Aber man sieht nun, dass es funktionieren kann. Man sieht aber auch die Grenzen. Und das macht es für neue Ideen und Gestaltungen so interes­sant. Das ist der gleiche Effekt wie bei der digitalen Video­chat-Kommunikation: Man gewöhnt sich mit der Dauer der Krise und man wird sie sich nicht mehr abgewöhnen.

„Wir werden uns die digitalen Kommunikations­formen unter Corona nicht mehr ab­gewöhnen.“

Wohnen und Arbeiten flexibler gestalten: etwa durch neue Alkoven-Möbel, die dem Rückzug im Büro dienen. (Bild © COR)

Der Corona-Effekt auf Stadt und Mobilität

Es gibt Prognosen, die sagen, wir werden nach Corona eine Stadt­flucht erleben. Die Menschen werden sich ein Häus­chen auf dem Land kaufen, selbst ihre Lebens­mittel an­bauen und verstärkt die Nähe in der direkten Gemein­schaft suchen und nicht mehr im anonymen Nirvana des Internets. Was hältst Du von dieser Prognose?

Bertsch: Das scheint mir ein bisschen arg romantisch zu sein. Aber ich hoffe, dass durch die ohnehin stärkere Digitalisierung Cloud­working auch für andere Bereiche im länd­lichen Raum möglich ist. Es wird bestimmte Pendel­bewegungen gar nicht mehr geben. Wenn ich mir Branden­burg anschaue: Un­heimliche viele Leute dort müssen sehr weite Strecken fahren, obwohl sie die Dinge auch gut auch von zuhause aus machen könnten. Diese ländlichen Gebiete werden durch eine zunehmende Digi­tali­sierung interes­santer. Diese Tendenzen waren schon vor der Corona-Pan­demie da und werden sich weiter fort­setzen. Die Bedeutung des Ausbau des Breit­band-Internet im ländlichen Raum ist jetzt noch klarer und muss elementarer Teil des Wider­auf­bau­programms nach der Krise sein.

Alles ist vernetzt: Still aus dem Film „Swatted“ von Ismaël Joffroy Chandoutis, produziert von Le Fresnoy, der auf der diesjährigen Transmediale lief. (Bild © 2018, Courtesy of the artist)

Der Schutz von digitalen Gesundheitsdaten

Wir erleben im Zuge der Corona-Pandemie-Maß­nahmen eine welt­weite Dis­kussion um Grund­rechte, auch in Bezug auf Forderung nach Daten­schutz hin­sichtlich der Ein­führung der Gesund­heits­tracking-Apps. Wie bewertest du dies als Be­für­worter der Digi­tali­sierung?

Bertsch: Es gibt zunächst einmal die amerikanische Artificial Intelligence (AI) Strategie, die eine kapital­markt­getriebene ist. Die chinesische ist durch den Über­wachungs­staat getrieben. In Europa brauchen wir eine eigene humane AI Strategie, für die Emmanuel Macron bereits 2017 vorschlug, in einer deutsch-fran­zösischen Ko­operation mit dem um­fassenden franzö­sischen Gesund­heits­daten­bestand an­zu­fangen. Auf diesen Vorstoß hat die Bundes­regierung über­haupt nicht reagiert. Das andere ist die Frage des Hostings, diese wurde bisher nicht wirklich diskutiert. Ob der Server in Holland oder Wisconsin steht, ist eben nicht egal. Dies wird uns klarer, seitdem wir, unter anderem durch Edward Snowden, wissen, dass es geheim­dienst­liche Quer­ver­bindungen durch alle großen Provider in den USA gibt. Wenn wir in Europa die Server auf­bauen, müssen wir uns jedoch auch mit städte­baulichen Ein­griffen be­schäftigen, denn diese Server­parks sind ja auch Gebäude, Räume, riesige, abge­schirmte Kisten. Die dritte Frage ist die ener­getische: Will ich mir die haar­sträubenden Energie­mengen leisten, um die Daten als Block­chain zu sichern?

Wie können wir uns von den Tech-Riesen wie Google, Amazon, Apple oder neuerdings auch Zoom emanzipieren? Wäre es dann sinnvoll, wenn man sich die Diskussion um die Corona-Tracking-Apps anschaut, dass der Staat solche Server aufbaut?

Bertsch: Der Staat ist letztendlich Reprä­sentant unserer Gesell­schaft. Staaten können bekannt­lich ihre Macht miss­brauchen. Aber der Staat in unserer demokratischen Gesell­schaft ist ein Garant für den Schutz des Indi­viduums und vor allem der der Ein­klag­bar­keit von Recht. Wenn man seine Daten an Apple gibt, verlieren wir diese Kontrolle. Das ist der Riesen­unter­schied. Die Frage ist vor allem, welche Alter­nativen es gibt? Und da sind wir in Europa zur Zeit in der Defensive, weil wir die Ent­wicklung dieser Systeme nicht voran­ge­trieben haben. Nur die Gesetz­geber können diese Tech-Riesen überhaupt noch in die Schranken weisen, nicht die nach­wachsenden Mit­be­werber. Ein erster Schritt ist die europäische Daten­schutz­grund­ver­ordnung (DSGVO), übrigens ein Export­schlager.

Von Amsterdam nach Frankfurt in 53 Minuten: dank eines adaptiven Hochgeschwindigkeitstransportsystems, bei dem Magnetschwebebahnen und -kapseln mit bis zu 1125km/h durch Röhren mittels Solarenergie befördert werden. Eine Idee von UNStudio in Zusammenarbeit mit Hardt. (Bild © UNStudio)

Design for Social Innovation

Du beschäftigst dich auch mit Nach­haltig­keit. Führende Denker wie Bruno Latour fordern, dass wir Menschen uns wieder als Teil der Natur wahr­nehmen müssen. Ein Verständnis, dass wir im Verlauf der Moderne, so scheint es, vergessen haben. Wie kommen wir da wieder hin? Und was heißt das für das Design?

Bertsch: Design verändert ja die Welt mit, indem wir sie gestalten. Das Gute am Design ist seine große Freiheit an Be­wegungs­möglich­keit. Wir machen uns zu wenig Gedanken darüber, was Design alles kann. Design kann viel mehr, als es zurzeit tut. Man darf sich nicht nur auf die Wirt­schafts­möglich­keiten konzen­trieren. Da hat Ezio Manzini mit seiner Forderung nach „Design for social innovation“ vor einigen Jahren schon einen guten Diskurs auf­ge­macht. Wo kann Design helfen zu visualisieren, zu aktivieren, zu kommunizieren, um Zukunfts­bilder zu entwerfen? Da spielt Design eine Riesen­rolle. Das kann sonst keiner. Bei der Frage der Blick­winkel finde ich die Initiative „Women of DDC“ sehr wichtig. Frauen haben einen anderen Blick auf die Welt als Männer, insbesondere bei der Inter­pretationen sozialer Phänomene wird dies sehr deutlich.

„Der EU Green Deal ist eine Riesenchance für das Design. Schaut in das Dokument!“

Auch wenn immer wieder die politische Dimension von Design heraus­gestellt wird, in der Regel sind es die Politiker­*innen und Unter­nehmer­*innen und nicht die Designer­*innen, die die großen Direk­tiven stellen. Wie können sich Designer­*innen auf Entscheidungs­ebene aktiv ein­bringen? Und macht es jetzt über­haupt Sinn, da es bei Vielen doch nur um reine Existenz­sicherung geht?

Bertsch: Der DDC versucht ja, Design nicht als getrennte Gewerke zu verstehen, sondern als integrierte Gestalter unserer Gesellschaft und unserer Welt. Dafür kämpfen wir auf allen Ebenen. Leider sind wir viel zu klein als Branche auf der Lobbyebene. Aber dennoch: Wie können wir unseren Beitrag zur Gesellschaft formulieren? Der EU Green Deal ist eine gute Chance, die Rolle des Designs in dieser Transformation darzustellen.

Wie könnte das konkret aus­schauen? Ich gehe beispiels­weise zu meiner/m Kund*in, der mir ein Produkt­briefing gegeben hat und ich sage: Lassen Sie uns erst einmal über den EU Green Deal reden?

Bertsch: Meine Frau, Professorin Annette Bertsch, lehrt genau das an der Kunst­hoch­schule in Kassel. Design Management ist wichtig, um besser zu ver­stehen, an welcher Stelle im Wert­schöpfungs­prozess Design über­haupt relevant ist. Und an welcher Stelle Designer­*innen hinzu­ge­zogen werden und sie die Prozesse be­ein­flussen können. Die Grund­idee ist, möglichst weit vorne in den Design­prozess hinein zu kommen, bevor das klassische Design­briefing entsteht. Das kann man nur erreichen, wenn man mit der/dem Kund*in konstant Kontakt hält. Man muss wissen, wann sie etwas ent­wickeln wollen und relativ früh mit Ideen auf die/den Kund*in zugehen, bevor diese/r überhaupt auf die Idee kommt, ein Briefing zu schreiben.

Aktuell dürfte das nicht so einfach sein ...

Bertsch: Es drückt sich in der Krise aktuell fatal aus, wenn die Designer­*innen nicht nah genug an der/am Kund*in dran sind. Der Kontakt reißt ab, man hat ja schein­bar keinen Anlass sich aus­zu­tauschen. Also dran­bleiben, um eben frühzeitig in Themen als Gesprächs­partner*in ein­zu­steigen und ernst genommen zu werden. Wenn man nicht kommuniziert, ist man raus dem Spiel. Das ist auch ein Bestand­teil der klassischen Luhmann­schen Theorie: In dem Moment, in dem man nicht mehr kommuniziert, hört auch ein System auf zu existieren. Durch den Abriss der Kommu­nikation löst sich das Kund­*innen-Berater­*innen-Ver­hältnis ganz einfach auf.

Mehr Nachhaltigkeit durch neue Technologien: Kudsk Steensens Kunstwerk „The Deep Listener“ versucht Menschen durch eine Augmented Reality App auf die verheerende Naturzerstörung aufmerksam zu machen. (Bild © Jakob Kudsk Steensen, The Deep Listener, 2019. AR Visualisation. Courtesy the artist. Serpentine Augmented Architecture in collaboration with Google Arts & Culture and Sir David Adjaye OBE)

Digital-ökologische Transformation

Der DDC hat diesen DESIGN DISKURS anlässlich seines 30-jährigen Bestehens initiiert, um einen neuen um­fassenderen Design­begriff zu diskutieren. Ein Diskurs, der sich unter dem Brenn­glas der Krise zuspitzt. Woran müsste sich Deiner Meinung nach dieses neue Ver­ständnis der Disziplin orientieren?

Bertsch: Designer­*innen müssen sich stärker in Richtung Techno­logie ent­wickeln. Sie selbst müssen sich mehr Techno­logie aneignen, aber auch mit Techno­logen und Ingenieuren mehr zusammen­arbeiten. Neue Ko­operation an Schnitt­stellen zu Biologie, Technologie oder Medizin eingehen. Der DDC ist ein gutes Beispiel dafür, wie man diese Schnitt­stellen zusammen­bringen kann. Alle Gestaltungs­disziplinen müssen aber insgesamt mehr mit Technologie zusammen­gehen. Deshalb ist das Massa­chusetts Institute of Technology (MIT) in Boston so erfolgreich, weil sie Technologie und Design zusammen­denken. In Europa sind es zum Beispiel das Karlsruher Institut für Technologie, das Zentrum für Kunst und Medien ZKM, ebenso in Karlsruhe, die Aalto Universität in Helsinki oder das ARTEM in Nancy, Lothringen.

Du forderst also in puncto nachhaltige Trans­formation nicht „back to basic“, sondern ein Wandel Hand in Hand mit techno­logischen Entwicklungen?

Bertsch: Wenn ich über den EU Green Deal rede, dann geht es eigentlich nur über techno­logischen Ent­wicklungen. Wie kann ich diese Techno­logien so trans­formieren, dass wir in eine nachhaltige Gesell­schaft kommen? Nach­haltige Produkte, Cradle-to-cradle Prozesse, User Interface, alles das, was da passiert, muss ich gestalten. Der EU Green Deal will keine Jutesack-Romantik, sondern eine Hightech-Wirt­schaft, die vollständig auf nach­haltigen Prinzipen basiert und nicht mehr CO2 in die Luft bläst. Man muss dabei aber immer wieder die Sinn­frage stellen.


„Designer*innen müssen sich mit neuen Techno­logien, mit an­grenzenden Disziplinen befassen.“

Ergebnis einer interdisziplinären Kooperation: Das KIT in Karlsruhe hat auf der Suche nach alternativen Baumaterialien den „MycoTree“ vorgestellt – eine Struktur aus Pilzmyzelium und Bambus, deren Tragwerk mittels digitalen 3D-Modellen optimiert wurde. (Bild © Carlina Teteris)

Was bedeutet das für die Designer*innen in der Praxis? Und speziell für den Diskurs im DDC?

Bertsch: Wir müssen einerseits über die geschäft­lichen Nöte sprechen. Aber gleichzeitig auch darüber, wie wir die Disziplin weiter­ent­wickeln können. In der Archi­tektur ist dieser Diskurs ver­breiteter. Im Design passiert das nicht. Da schaut man mal nach Trends, aber das ist zu kurz­fristig. Die Lang­fristig­keit der Perspek­tive ist unter uns so schlecht entwickelt. Wir als Designer­*innen müssen uns mit Zukunfts­studien und -szenarien aus­einandersetzen, mit neuen Techno­logien und neuen Materialien sowie neuen Lösungs­systemen. Die BASF Design­fabrik ist ein heraus­ragendes Beispiel dafür. Designer­*innen sind in der Mehr­zahl heute nicht nah genug an den Nach­bars­disziplinen dran. Für den DDC heißt das: Erstmal reinhören in die eigenen Disziplinen und sich dann mit den an­grenzenden Disziplinen verbinden. Design muss letztlich aus der Ecke des nach­geordneten Kommu­nika­tions­mittels raus­kommen.

In Frankreich hat der ehemalige französische Umwelt­minister Nicolas Hulot eine Kampagne initiiert, die darauf zielt, die Zeit der Krise für eine grund­legende Trans­formation zu nutzen. Die Kampagne unter­stützen viele Prominente wie Marion Cotillard, Juliette Binoche, Joan Phoenix und hierzulande Lars Eidinger. Sie alle haben einen Satz vollendet. Wie würdest Du ihn vollenden? Le temps est venu, die Zeit ist gekommen ...

Bertsch: ... sich als Designer*in intensiver mit angrenzenden Disziplinen: Soziologie , Biologie, Medizin auseinanderzusetzen.

Das Interview führte Martina Metzner

 

 

Literaturtipp

Der Europäische Green Deal, Kurzfassung auf Deutsch
https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/european-green-deal-communication_de.pdf

Design, When Everybody Designs. An Introduction to Design for Social Innovation
Von Ezio Manzini
256 Seiten, Hardcover, Englisch
MIT Press, Februar 2015
https://mitpress.mit.edu/books/design-when-everybody-designs

Die Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven
Von Gregory Bateson
675 Seiten, Taschenbuch
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 571, 12. Auflage 2017
www.suhrkamp.de/buecher/oekologie_des_geistes-gregory_bateson_28171.html

Professor Georg-Christof Bertsch

studierte Geschichte, Kunst- und Technik­geschichte an der FU und der TU Berlin. Seit 1988 ist Bertsch selbständig in Frankfurt niedergelassen. 1995 gründete er zusammen mit seiner Frau Annette die Bertsch & Bertsch GmbH. Er veröffentlichte Bücher, Essays, Blogbeiträge zu den Themen Branding, Marketing, Design, Designtheorie, Design­ausbildung, Architektur, Mobilität, Logistik. Daneben bildete er sich in Systemischer Organisations­be­ratung, Effectuation, Digital Marketing, Online-Writing und inter­kulturellem Manage­ment weiter. Bertsch spricht neben Deutsch fließend Englisch, Französisch, Spanisch. Seit 2005 ist er als Marken­berater bei B.BC tätig. Seit 2009 lehrt er als Honorar­professor an der HfG Offenbach „Intercultural Design“. Darüber hinaus ist Bertsch Mitglied im Kuratorium WELT­KULTUREN Museum (seit 2011), Rotarier (seit 2011), Partner witten.group (seit 2016), im Beirat Deutscher Designer Club DDC (seit 2018) und im Arbeits­kreis Digital Design der Bitkom (seit 2020).