DESIGN DISKURS
Um ihrem voranschreitenden Bedeutungsverlust entgegenzutreten, setzen Marken in jüngster Zeit auf Sinn- oder Purpose-Angebote, mit denen sie sich wieder aufladen wollen. Manche schießen dabei übers Ziel hinaus. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um die Positionierung von Marken und Sinn-Angeboten kritisch zu überprüfen.
Marken erleben seit Jahren einen Bedeutungsverlust. Ähnlich wie die Kirchen, die Parteien und die Gewerkschaften scheinen sie für immer mehr Menschen verzichtbar zu sein. Die Meaningful Brands Studie von Havas will herausgefunden haben, dass 77 Prozent aller Marken getrost verschwinden könnten.
Während die Institutionen keine relevanten Antworten auf die großen Fragen der Zeit haben, sind die Marken von anderen strukturellen Problemen betroffen. Entwürdigt durch Stiftung Warentest-Ergebnisse, die fast immer den Billigheimer gut aussehen lassen, werden sie vom Publikum der Täuschung verdächtigt. Gedemütigt durch Plattform-Anbieter wie Amazon und Co. erscheint es niemandem mehr sinnvoll, mehr Geld für gleich viel Empfehlungssterne auszugeben, wenn sie alle in derselben Reihe stehen. Überflüssig geworden in ihrer Vielzahl durch technologische Entwicklungen, warten sie auf ihre Konsolidierung, zum Beispiel die Versicherungen und regionale Ferienhaus-Agenturen. Unglaubwürdig geworden durch allzu viele Schein-Innovationen, greifen die Menschen im ausdifferenzierten Spülmaschinentabs-Regal lieber nach der Handelsmarke als nach dem Marken-Produkt. Wer könnte es ihnen verdenken? Viele Marken haben ihren Sinn eingebüßt. Sie haben keine Ordnungsfunktion mehr und sind austauschbar geworden.
Flut von Sinn- oder Purpose-Angeboten
Aufgeschreckt von den Katastrophen-Ergebnissen der Havas-Studie hat sich dann die Purpose-Bewegung aufgemacht, den unter Druck geratenen Marken wieder neuen Spirit einzuhauchen. Relevant sollen sie sein, eine Bedeutung sollen sie haben, inspirieren, bilden, informieren, belohnen, helfen, sogar unterhalten – puh, das ist ganz schön viel und will gut durchdacht und orchestriert werden.
Seitdem erleben wir eine Flut von Sinn- oder Purpose-Angeboten, mit denen sich Marken wieder aufladen wollen oder gleich neu gründen. Dove positioniert sich als Pflege für mehr Selbstwertgefühl. Die Wasser-Marke Viva con Agua setzt sich für den weltweiten Zugang zu sauberem Trinkwasser ein, hat also einen ethischen Sinn-Gedanken von Anfang an zum Geschäftsmodell gemacht. Swapfiets, die Leihfahrräder mit dem blauen Vorderrad, versprechen „nie mehr ein kaputtes Fahrrad“. The vegetarian butcher, eine neue Unilever-Marke, will mit fleischloser Ernährung sogar den Planeten retten. Das sind alles plausible Sinnangebote, die über den reinen Geschäftszweck der Gewinnerzielungsabsicht und des Wachstums hinausweisen.
„Relevant sollen Marken sein, eine Bedeutung sollen sie haben, inspirieren, bilden, informieren, belohnen, helfen, sogar unterhalten – puh, das ist ganz schön viel und will gut durchdacht und orchestriert werden.“
Aber es gibt auch Marken, deren Sinn- und Purpose-Bestrebungen schwer verständlich bleiben. Der Discounter Penny beispielsweise ließ in seiner letzten Weihnachtskampagne Erwachsene zu Kindern werden, wollte damit Weihnachten für alle als Sinn-Angebot inszenieren. Auf dem Marketingtag erzählte dann der Penny-Manager noch von seinen weiteren Purpose-Bestrebungen: Auf Festivals Prosecco und Kondome verschenken. Das noch als strategisch geplantes Marketing mit Purpose-Gedanken zu verkaufen, muss man sich auch erst mal trauen. Wie weit kann sich eine Marke von seinem ursprünglichen Sinn- und Nutzen-Gedanken „Lebensmittel günstig einkaufen“ verabschieden? Da ist schon mehr Purpose im Penny-Ratgeber „Alle satt für unter 10 Euro am Tag“ drin. Leider ist dieser Content ziemlich versteckt. Ich ahne das Argument: Nicht „emotional“ genug. Dabei gibt es doch eigentlich nichts in unserer Kultur, was als noch privater also exklusiv, fürsorglicher, berührender gilt, als die eigene Familie an den gedeckten Tisch zu bringen. An diesem Beispiel ist gut zu sehen, dass manche bestimmt gut gemeinte Bemühungen wenig glaubhaft wirken und unterm Strich dann an den Menschen vorbeigehen oder sogar als störend erlebt werden können. Es zeigt ebenfalls, dass Sinn nicht in einem weit entfernten Außen gesucht werden muss, sondern oftmals dort zu finden ist, wo die Marke herkommt. Auch Discount mit Gewinnerzielungsabsicht kann sinnstiftend sein.
Jetzt, da gerade das gesamte wirtschaftliche und damit auch soziale Gefüge vor völlig neuen Herausforderungen steht, ist der richtige Zeitpunkt, um die Positionierung von Marken und Sinn-Angeboten kritisch zu überprüfen. Es ist ein guter Zeitpunkt, um sich zu sammeln und gegebenenfalls Anpassungen in der Ausrichtung vorzunehmen. Im Hinblick auf Sinn sollten sich Agenturen und Unternehmen fragen: Wo müssen wir eventuell nachsteuern oder sogar ganz neu ansetzen? Es finden sich erfahrungsgemäß immer Potenziale für innovative Produktideen und für wirksamere Kommunikationsstrategien.
Vier Facetten für Identität mit Sinn
Für Agenturen, Unternehmen und Organisationen steht dann die Frage im Fokus, wie sie zu einem Sinnangebot kommen können, das natürlicherweise passt und dabei einen echten Mehrwert für die Menschen bietet.
Meiner Erfahrung nach sind es vier Facetten, die in einem strukturierten Prozess auf der Suche nach einer glaubwürdigen, wettbewerbsüberlegenen Identität mit Sinn strukturiert durchgearbeitet werden sollten:
1. Facette: Mega-Trends. Erstens sollten sich die Unternehmen mit übergeordneten Mega-Trends auseinandersetzen und sich fragen, was diese für ihre Branche für eine Bedeutung haben. Mega-Trends wie beispielsweise Selbstoptimierung sind Bewegungen, die über viele Jahre die allermeisten Branchen bestimmen. Es geht also beim Betrachten von Trends nicht darum, ob jetzt diesen Sommer im Frozen Yoghurt-Laden Waldmeister oder Salt Caramel angesagt ist, sondern welche übergeordneten Strömungen für meine Branche wichtig sind. Was bedeutet das für das Produkt- und Service-Portfolio? Welchen Beitrag können Design und Kommunikation in ihrer Ausrichtung hier leisten? Der Architekt Rem Koolhaas hat dazu eine interessante Beobachtung gemacht. Für ihn sind die immer wichtiger werdenden Bedürfnisse der Menschen Sicherheit, Nachhaltigkeit und Komfort. Nur verhalten sich diese drei wie ewig zankende Geschwister, die ständig darum streiten, wer vorne sitzen darf. Auch dies hat Corona mit der zumindest kurzzeitigen Renaissance des To go-Bechers überdeutlich werden lassen. Sicherheit schlägt Nachhaltigkeit für den Moment.
2. Facette: Umfeld. Die zweite Facette auf der Suche nach sinnvoller Identität betrifft die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Umfeld, in dem ich mich bewege. Wie weit sind meine Wettbewerber schon? Was kann ich von ihnen lernen, ohne sie zu kopieren? Haben sie bereits übergeordnete Trends adaptiert, die die nächsten Jahre bestimmen?
3. Facette: Wettbewerb. Wer ist denn überhaupt der Wettbewerb? Ich erlebe es immer wieder, dass Unternehmen sich über eine Sensibilisierung an dieser Stelle freuen. Ich erinnere mich an einen Möbelhersteller, der dachte, weil er Massivholzmöbel herstellt, sind seine Wettbewerber nur die Massivholzmöbel-Hersteller. Der war sehr froh, dann mal für den Moment die Brille derjenigen aufsetzen zu können, die wirklich gerade einen Esstisch kaufen wollten. Dann sieht die Welt auf einmal ganz anders aus. Denn diese Menschen haben nicht in erster Linie nach Materialien ausgewählt, sondern sind viel offener herangegangen. Gefällt mir der Tisch, passt der ins Zimmer? Motivforschung ist immer ein wichtiger Punkt, auch im „neuen Normal“.
4. Facette: Eigene Stärken und Werte. Dann geht es aber auch ganz stark darum, sich mit den eigenen Stärken und Werten auseinanderzusetzen. Aus der Vielzahl dessen, was ein Unternehmen leistet und wie es sich und die Welt sieht, sollte schließlich eine Brand Activation Map formuliert werden, die es charakteristisch und unterscheidbar macht. Die beiden Gretchenfragen sind in diesem gemeinsamen Findungsprozess immer wieder: Sind die Stärken und Werte für die Menschen wirklich relevant? Oder denken wir das nur? „Tradition“ ist in diesem Zusammenhang ein schönes Beispiel für einen oft überschätzten Wert. Wer sein Fokus-Set-up an Stärken und Werten gefunden hat, kann dann überprüfen, wie differenziert sie heute schon kommuniziert werden mittels Branding, Botschaften, Packaging & Co. Hier gibt es meistens noch enorme Potenziale, die ganz leicht anzugehen sind, wenn die Map erst einmal da ist. Von da an bis zu einer sinnvollen Positionierung mit allen Ableitungen ist es nicht mehr weit. So lässt sich Sinn als Ordnungsform wie von selbst aus den Marken, ihrer relevanten Umwelt und ihrem Nutzen für die Menschen heraus entwickeln.
Vergessen wir nicht: Viele Marken, die wir kannten, sind tot. Neue Marken kommen. Ohne die freiwillige Zuneigung der Menschen sind sie nichts. Marke besteht auch aus Design, aber vor allem aus Vertrauen. Dieses soziale Bündnis ist ein Vertrauen in Sinn und in die Zukunft.