Swapfiets, die Leihfahrräder mit dem blauen Vorderrad, versprechen „nie mehr ein kaputtes Fahrrad“. Bild © Swapfiets

DESIGN DISKURS

Um ihrem voranschreitenden Bedeutungsverlust entgegenzutreten, setzen Marken in jüngster Zeit auf Sinn- oder Purpose-Angebote, mit denen sie sich wieder aufladen wollen. Manche schießen dabei übers Ziel hinaus. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um die Positionierung von Marken und Sinn-Angeboten kritisch zu überprüfen.

Veröffentlicht am 06.07.20

Marken erleben seit Jahren einen Bedeutungs­ver­lust. Ähnlich wie die Kirchen, die Parteien und die Gewerk­schaften scheinen sie für immer mehr Menschen verzicht­bar zu sein. Die Meaning­ful Brands Studie von Havas will heraus­ge­funden haben, dass 77 Prozent aller Marken getrost verschwinden könnten.


Während die Institutionen keine relevanten Ant­worten auf die großen Fragen der Zeit haben, sind die Marken von anderen strukturellen Problemen betroffen. Entwürdigt durch Stiftung Waren­test-Ergebnisse, die fast immer den Billig­heimer gut aus­sehen lassen, werden sie vom Publikum der Täuschung verdächtigt. Gedemütigt durch Plattform-Anbieter wie Amazon und Co. erscheint es nieman­dem mehr sinnvoll, mehr Geld für gleich viel Empfehlungs­sterne aus­zu­geben, wenn sie alle in der­selben Reihe stehen. Überflüssig geworden in ihrer Viel­zahl durch techno­logische Entwick­lungen, warten sie auf ihre Konsoli­dierung, zum Beispiel die Versicher­ungen und regionale Ferien­haus-Agenturen. Unglaub­würdig geworden durch allzu viele Schein-Inno­vationen, greifen die Menschen im aus­differen­zierten Spül­maschinen­tabs-Regal lieber nach der Handels­marke als nach dem Marken-Produkt. Wer könnte es ihnen ver­denken? Viele Marken haben ihren Sinn ein­gebüßt. Sie haben keine Ordnungs­funktion mehr und sind aus­tauschbar geworden.

 

Flut von Sinn- oder Purpose-Angeboten

Aufgeschreckt von den Katastrophen-Ergebnissen der Havas-Studie hat sich dann die Purpose-Bewegung auf­ge­macht, den unter Druck geratenen Marken wieder neuen Spirit einzu­hauchen. Relevant sollen sie sein, eine Bedeu­tung sollen sie haben, inspirieren, bilden, informieren, belohnen, helfen, sogar unter­halten – puh, das ist ganz schön viel und will gut durch­dacht und orches­triert werden.

Seitdem erleben wir eine Flut von Sinn- oder Purpose-Ange­boten, mit denen sich Marken wieder auf­l­aden wollen oder gleich neu gründen. Dove positioniert sich als Pflege für mehr Selbst­wert­gefühl. Die Wasser-Marke Viva con Agua setzt sich für den welt­weiten Zugang zu sauberem Trink­wasser ein, hat also einen ethischen Sinn-Gedanken von Anfang an zum Geschäfts­modell gemacht. Swap­fiets, die Leihf­ahr­räder mit dem blauen Vorder­rad, ver­sprechen „nie mehr ein kaputtes Fahrrad“. The vegetarian butcher, eine neue Unilever-Marke, will mit fleisch­loser Ernähr­ung sogar den Planeten retten. Das sind alles plausible Sinn­angebote, die über den reinen Geschäfts­zweck der Gewinn­erziel­ungs­absicht und des Wachstums hinausweisen.

„Relevant sollen Marken sein, eine Bedeutung sollen sie haben, inspirieren, bilden, informieren, belohnen, helfen, sogar unterhalten – puh, das ist ganz schön viel und will gut durchdacht und orchestriert werden.“

Aber es gibt auch Marken, deren Sinn- und Purpose-Bestrebungen schwer ver­ständlich bleiben. Der Discounter Penny beispiels­weise ließ in seiner letzten Weihnachts­kampagne Erwachsene zu Kindern werden, wollte damit Weih­nachten für alle als Sinn-Angebot inszenieren. Auf dem Marketing­tag erzählte dann der Penny-Manager noch von seinen weiteren Purpose-Bestrebungen: Auf Festivals Prosecco und Kondome ver­schenken. Das noch als strategisch geplantes Marketing mit Purpose-Gedanken zu ver­kaufen, muss man sich auch erst mal trauen. Wie weit kann sich eine Marke von seinem ur­sprüng­lichen Sinn- und Nutzen-Gedanken „Lebens­mittel günstig einkaufen“ verab­schieden? Da ist schon mehr Purpose im Penny-Rat­geber „Alle satt für unter 10 Euro am Tag“ drin. Leider ist dieser Content ziemlich versteckt. Ich ahne das Argument: Nicht „emotional“ genug. Dabei gibt es doch eigent­lich nichts in unserer Kultur, was als noch privater also exklusiv, fürsorglicher, berührender gilt, als die eigene Familie an den gedeckten Tisch zu bringen. An diesem Beispiel ist gut zu sehen, dass manche bestimmt gut gemeinte Bemühungen wenig glaub­haft wirken und unterm Strich dann an den Menschen vorbei­gehen oder sogar als störend erlebt werden können. Es zeigt ebenfalls, dass Sinn nicht in einem weit ent­fernten Außen gesucht werden muss, sondern oftmals dort zu finden ist, wo die Marke herkommt. Auch Discount mit Gewinn­erzielungs­absicht kann sinn­stiftend sein.

Jetzt, da gerade das gesamte wirt­schaft­liche und damit auch soziale Gefüge vor völlig neuen Heraus­forder­ungen steht, ist der richtige Zeitpunkt, um die Positio­nierung von Marken und Sinn-Ange­boten kritisch zu über­­prüfen. Es ist ein guter Zeit­­punkt, um sich zu sammeln und gegeben­en­­falls Anpas­s­ungen in der Aus­richtung vorzunehmen. Im Hinblick auf Sinn sollten sich Agenturen und Unter­nehmen fragen: Wo müssen wir eventuell nach­steuern oder sogar ganz neu ansetzen? Es finden sich erfahrungs­gemäß immer Potenz­iale für inno­vative Produkt­ideen und für wirk­samere Kommuni­kations­strategien.

 

Vier Facetten für Identität mit Sinn

Für Agenturen, Unter­nehmen und Organi­sationen steht dann die Frage im Fokus, wie sie zu einem Sinn­angebot kommen können, das natürlicher­weise passt und dabei einen echten Mehr­wert für die Menschen bietet.

Meiner Erfahrung nach sind es vier Facetten, die in einem strukturierten Prozess auf der Suche nach einer glaub­würdigen, wett­bewerbs­über­legenen Identität mit Sinn strukturiert durch­ge­arbeitet werden sollten:

1. Facette: Mega-Trends. Erstens sollten sich die Unternehmen mit über­geordneten Mega-Trends auseinander­setzen und sich fragen, was diese für ihre Branche für eine Bedeutung haben. Mega-Trends wie beispiels­weise Selbst­optimierung sind Bewegungen, die über viele Jahre die aller­meisten Branchen bestimmen. Es geht also beim Betrachten von Trends nicht darum, ob jetzt diesen Sommer im Frozen Yoghurt-Laden Waldmeister oder Salt Caramel angesagt ist, sondern welche über­geordneten Strömungen für meine Branche wichtig sind. Was bedeutet das für das Produkt- und Service-Portfolio? Welchen Beitrag können Design und Kommunikation in ihrer Aus­richtung hier leisten? Der Architekt Rem Koolhaas hat dazu eine interes­sante Beobach­tung gemacht. Für ihn sind die immer wichtiger werdenden Bedürf­nisse der Menschen Sicher­heit, Nach­haltigkeit und Komfort. Nur verhalten sich diese drei wie ewig zankende Geschwister, die ständig darum streiten, wer vorne sitzen darf. Auch dies hat Corona mit der zumindest kurz­zeitigen Renais­sance des To go-Bechers über­deutlich werden lassen. Sicher­heit schlägt Nach­haltig­keit für den Moment.

2. Facette: Umfeld. Die zweite Facette auf der Suche nach sinnvoller Identität betrifft die ernsthafte Ausein­ander­setzung mit dem Umfeld, in dem ich mich bewege. Wie weit sind meine Wett­be­werber schon? Was kann ich von ihnen lernen, ohne sie zu kopieren? Haben sie bereits über­geordnete Trends adaptiert, die die nächsten Jahre bestimmen?

3. Facette: Wettbewerb. Wer ist denn überhaupt der Wett­be­werb? Ich erlebe es immer wieder, dass Unter­nehmen sich über eine Sensi­bilisierung an dieser Stelle freuen. Ich erinnere mich an einen Möbel­hersteller, der dachte, weil er Massiv­holz­möbel her­stellt, sind seine Wett­be­werber nur die Massiv­holz­möbel-Her­steller. Der war sehr froh, dann mal für den Moment die Brille der­jenigen auf­setzen zu können, die wirk­lich gerade einen Esstisch kaufen wollten. Dann sieht die Welt auf einmal ganz anders aus. Denn diese Menschen haben nicht in erster Linie nach Materialien aus­gewählt, sondern sind viel offener heran­ge­gangen. Gefällt mir der Tisch, passt der ins Zimmer? Motiv­forschung ist immer ein wichtiger Punkt, auch im „neuen Normal“.

4. Facette: Eigene Stärken und Werte. Dann geht es aber auch ganz stark darum, sich mit den eigenen Stärken und Werten aus­einander­zu­setzen. Aus der Viel­zahl dessen, was ein Unter­nehmen leistet und wie es sich und die Welt sieht, sollte schließlich eine Brand Activation Map formuliert werden, die es charakter­istisch und unter­scheidbar macht. Die beiden Gretchen­fragen sind in diesem gemein­samen Findungs­prozess immer wieder: Sind die Stärken und Werte für die Menschen wirklich relevant? Oder denken wir das nur? „Tradition“ ist in diesem Zusammen­hang ein schönes Beispiel für einen oft über­schätzten Wert. Wer sein Fokus-Set-up an Stärken und Werten gefunden hat, kann dann über­prüfen, wie differen­ziert sie heute schon kommu­niziert werden mittels Branding, Botschaften, Packaging & Co. Hier gibt es meistens noch enorme Potenziale, die ganz leicht anzu­gehen sind, wenn die Map erst einmal da ist. Von da an bis zu einer sinnvollen Position­ierung mit allen Ableitungen ist es nicht mehr weit. So lässt sich Sinn als Ordnungs­form wie von selbst aus den Marken, ihrer rele­vanten Umwelt und ihrem Nutzen für die Menschen heraus entwickeln.

Vergessen wir nicht: Viele Marken, die wir kannten, sind tot. Neue Marken kommen. Ohne die frei­willige Zuneigung der Menschen sind sie nichts. Marke besteht auch aus Design, aber vor allem aus Vertrauen. Dieses soziale Bündnis ist ein Ver­trauen in Sinn und in die Zukunft.

Christian Prill

ist Marken- und Kommunikationsstratege mit soziologischem Blick. Mit seiner Beratungsfirma STRAT FWD geht er der Frage nach, wie sich Unternehmen, Organisationen und Agenturen im Wandel sinnvoll profilieren können. Zuvor war er neun Jahre Partner für Brand Strategy bei der Marken- und Design-Agentur Factor.