Blick in die Küche des Budgeheims, Frankfurt am Main, Bild © Das Neue Frankfurt, Heft 7 1930, S. 174 unten

DESIGN DISKURS

Im Rah­men der Fei­er­lich­kei­ten zum 100-jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um des „Neu­en Frank­furts“ zeigt das Mu­se­um An­ge­wand­te Kunst in Frank­furt am Main die Aus­stel­lung „Yes, we care. Das neue Frank­furt und die Frage nach dem Gemein­wohl“ DDC De­sign Dis­kurs-Ku­ra­to­rin Prof. Dr. Ger­da Breuer sprach mit Ku­ra­to­rin Grit We­ber über Ge­mein­wohl und Care-Ar­beit des da­ma­li­gen Stadt­ent­wick­lungs­pro­gramms im Ver­gleich zu heute.

Veröffentlicht am 02.04.2025

Messestand zum Thema Gesunde Ernährung während der Ausstellung „Die Hausfrau der Gegenwart“, Festhalle, Haus der Moden, Frankfurt am Main, 1932. Bild © Archiv Messe Frankfurt

Ger­da Breu­er: Lie­be Grit We­ber, als stell­ver­tre­ten­de Di­rek­to­rin des Mu­se­um An­ge­wand­te Kunst in Frank­furt am Main und Ku­ra­to­rin für De­sign ver­ant­wor­ten Sie die Aus­stel­lung mit dem Ti­tel „Yes, we ca­re.“. An­lass ist das 100-jäh­ri­ge Ju­bi­lä­um des Stadt­ent­wick­lungs­pro­gramms „Neu­es Frankfurt“ 2025. Ei­ner­seits be­han­deln Sie hier Kon­zep­te aus den 1920er und 30er Jah­ren und die Fra­ge nach dem Ge­mein­wohl; auf der an­de­ren Sei­te geht es auch um die Ak­tua­li­tät des The­mas Ca­re-Ar­beit, das, wie ich mei­ne, im­mer wie­der an den Rand der Dis­kus­sio­nen ge­rät. Das „Neue Frankfurt“ ist ein her­vor­ra­gen­des Bei­spiel für Trans­for­ma­ti­on. Und zwar ei­ner Trans­for­ma­ti­on mit Ge­stal­tungs­mit­teln der Mo­der­ne. Man kann hier sehr ein­drucks­voll von ei­nem er­wei­ter­ten De­si­gn­be­griff spre­chen. Nun ver­band man das „Neue Frankfurt“ in der Ver­gan­gen­heit ins­be­son­de­re mit der Ar­chi­tek­tur, auch et­wa mit so iko­ni­schen De­si­gn­lö­sun­gen wie der „Frankfurter Kü­che“. Viel zu kurz ist in mei­nen Au­gen bis­her im­mer das The­ma der Ge­mein­wohl­pfle­ge und Da­seins­für­sor­ge in die­sem Rah­men ge­we­sen, die ja ganz zen­tral für die so­zia­le Aus­rich­tung des Neu­en Frank­furt war. Ver­ra­ten Sie mir, was Sie zur Wahl die­ses Schwer­punk­tes ver­an­lasst hat?

Grit We­ber: … vor al­lem das Be­ob­ach­ten ak­tu­el­ler Ten­den­zen: zahl­rei­che Dis­kur­se über die Care-Kri­se, Gen­der Pay Gap und Gen­der Care Gap, Al­ters­ar­mut ins­be­son­de­re bei Frau­en und über al­lem die sich zu­spit­zen­de Woh­nungs­not in den Me­tro­po­len wie Frank­furt. Auch be­schleicht mich gleich­zei­tig ein lei­ses Un­be­ha­gen dar­über, wie das „Neue Frankfurt“ mit zu­neh­men­der An­nä­he­rung an das Ju­bi­lä­um häu­fig kri­tik­los em­por­ge­ho­ben, my­thi­siert und zu­wei­len auch in­stru­men­ta­li­siert wird. Be­son­ders von den Ver­fech­ter*in­nen des „Bau­ens um je­den Preis“. Wir fra­gen zu we­nig, für wen ei­gent­lich ge­baut wird und was ei­gent­lich mit dem gan­zen Leer­stand pas­siert. Ein ver­tie­fen­der Blick auf die Ge­stal­tungs­ge­schich­te ist ja im­mer er­hel­lend und stärkt den Wi­der­spruchs­geist. Auch fand ich es mit zu­neh­men­der Be­schäf­ti­gung zum The­ma „Neu­es Frankfurt“ in­ter­es­sant, ei­ne in der Ge­schich­te statt­ge­fun­de­ne Ge­stal­tungs­leis­tung mit dem ver­gleichs­wei­se jun­gen Be­griff des So­ci­al De­sign in Ver­bin­dung zu brin­gen und da­mit den Blick auf De­sign, der sich ja häu­fig auf äs­the­ti­sche Fra­gen und for­ma­le As­pek­te kon­zen­triert, er­neut um die so­zia­le Ebe­ne zu er­wei­tern.

„Wer So­ci­al De­sign macht, ist ei­ne De­mo­krat*in und um­ge­kehrt: De­mo­kra­ti­en gelin­gen dann am bes­ten, wenn sie auf star­ken so­zia­len Struk­tu­ren ba­sie­ren.“

Grit Weber

 

Grit Weber ist stellvertretende Direktorin des Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main und Kuratorin für Design. Bild © Sabine Schirdewahn

Ger­da Breu­er: Wird die­se Aus­stel­lung Auf­takt und Teil des gro­ßen Events World De­sign Ca­pi­tal Frank­furt 2026 sein, das ja den Ti­tel „De­sign for De­mo­cra­cy. At­mo­s­phe­res for a bet­ter life“ trägt? Sie spre­chen von ei­nem „Dis­kurs­raum“.

Grit We­ber: Frank­furt am Main wird 2026 World De­sign Ca­pi­tal. Ein we­sent­li­ches Ar­gu­ment für die Be­wer­bung war der Be­zug auf die Leis­tun­gen des „Neu­en Frankfurt“. Was liegt nä­her, als bei­de Er­eig­nis­se – das Ju­bi­lä­um 2025 und den Ti­tel World De­sign Ca­pi­tal 2026 – mit­ein­an­der zu ver­bin­den? Das Mu­se­um An­ge­wand­te Kunst tut dies mit ei­ner gan­zen Rei­he von Aus­stel­lun­gen und Ver­an­stal­tun­gen. Ne­ben „Yes, we ca­re.“ ar­bei­te ich auch an ei­ner Aus­stel­lung mit dem Ti­tel „Was war das Neue Frank­furt?“. Da­mit möch­ten wir die Be­su­cher*in­nen mit den Grund­in­for­ma­tio­nen über die­se Ge­stal­tungs­mo­der­ne ver­sor­gen und gleich­zei­tig ih­ren wirk­lich um­wäl­zen­den An­satz trans­for­mie­ren. In kür­zes­ter Zeit sind ja nicht nur 12.000 Woh­nun­gen ent­stan­den, son­dern auch zahl­rei­che In­dus­trie­bau­ten und öf­fent­li­che Ge­bäu­de. Als zeit­ge­nös­si­sche Ebe­ne für die Aus­stel­lung „Yes, we ca­re.“ ent­wick­le ich ge­mein­sam mit et­li­chen Ko­ope­ra­ti­ons­part­ner*in­nen ei­nen Dis­kurs­raum. Hier wol­len wir brei­ter über die Ge­stal­tungs­im­pul­se und ih­re Be­deu­tung für ei­ne So­li­dar­ge­mein­schaft spre­chen. Ich bin der Mei­nung, dass der so­zia­le Ge­dan­ke Grund­la­ge ei­ner je­den de­mo­kra­ti­schen Ord­nung ist. Wer So­ci­al De­sign macht, ist ei­ne De­mo­krat*in und um­ge­kehrt: De­mo­kra­ti­en ge­lin­gen dann am bes­ten, wenn sie auf star­ken so­zia­len Struk­tu­ren ba­sie­ren.

Reformschule Bornheimer Hang (Collage), Bild © Das Neue Frankfurt, Heft 9, 1930

Ger­da Breu­er: Es lässt sich kaum auf­zäh­len, was al­lein die städ­ti­sche Ver­wal­tung im Pro­jekt „Neu­es Frankfurt“ in den 1920er Jah­ren für die Da­seins­für­sor­ge ih­rer Be­völ­ke­rung un­ter­nom­men hat. Ich zi­tie­re ein paar Punk­te aus dem Kon­zept: Von gro­ßan­ge­leg­tem so­zia­len Woh­nungs­bau bis zur Wei­ter­ent­wick­lung und Grün­dung kom­mu­na­ler In­sti­tu­tio­nen (Für­sor­ge­amt, Sport­amt, Kul­tur­amt und Ge­sund­heits­amt), von ei­ner pro­fes­sio­na­li­sier­ten Kin­der-, Kran­ken- und Al­ten­für­sor­ge (Neu­bau von Kran­ken­häu­sern, Al­ters­hei­men, Kin­der­gär­ten und Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der Be­rufs­aus­bil­dung für die­se Be­rei­che) bis zu struk­tu­rier­ten Schul- und Wei­ter­bil­dungs­ent­wick­lun­gen (Schul­neu­bau­ten, päd­ago­gi­sche Ein­rich­tun­gen so­wie Volks­bil­dung, Frau­en­bil­dungs- und Frau­en­er­werbs­ver­ei­nen, aber auch Bi­blio­theks­we­sen und Kul­tur­häu­ser), von zen­tra­li­sier­ten Ein­rich­tun­gen zur Un­ter­stüt­zung häus­li­cher Ar­beit (Zen­tral­wä­sche­rei­en, Zen­tral­hei­zun­gen, Zen­tral­kü­chen) bis zu ge­nos­sen­schaft­li­chen Grün­dun­gen und ei­ner le­ben­di­gen De­bat­ten­kul­tur, die sich nicht al­lein in der Zeit­schrift „Das Neue Frankfurt“ wi­der­spie­gel­te. Hin­zu ka­men pri­va­te In­itia­ti­ven von Ein­zel­nen und Ge­mein­schaf­ten. Das ist wirk­lich vor­bild­lich. Und den­noch hat sich die Ge­sell­schaft ver­än­dert. Was kann man von den eins­ti­gen Kon­zep­ten heu­te über­neh­men? Was müss­te sich än­dern?

Grit We­ber: Ei­ne pas­si­ve Über­nah­me wä­re kei­ne gu­te Idee. Un­se­re Si­tua­ti­on heu­te un­ter­schei­det sich in vie­len The­men fun­da­men­tal. Ich spre­che da­her lie­ber von Im­pul­sen und An­re­gun­gen: Wie schon wei­ter oben an­ge­ris­sen ist die Fra­ge zu stel­len, für wen ei­gent­lich ge­baut wird: Das „Neue Frankfurt“ kon­zen­trier­te sich auf die bür­ger­li­che Kern­fa­mi­lie aus Mut­ter, Va­ter und den Kin­dern. Äl­te­re und Be­rufs­tä­ti­ge, die al­lein leb­ten – hier im Be­son­de­ren be­rufs­tä­ti­ge Frau­en – hat­ten es sehr schwer, Wohn­raum zu fin­den. Hier ist al­so der Be­griff Viel­falt der Le­bens­ent­wür­fe grund­le­gend. Wir stel­len bei­spiels­wei­se ei­ne Stif­tung und ei­ne Ge­nos­sen­schaft vor, die vor 100 Jah­ren her­aus­ra­gen­de Ein­zel­lö­sun­gen ent­wi­ckel­ten. Au­ßer­dem die Ge­schlech­ter­ge­rech­tig­keit – da­mals wie heu­te ein hei­ßes Ei­sen. Sie hat Aus­wir­kun­gen auf Woh­nen, Bil­dung und Ge­sund­heit. Auch hier kom­men auch aus Frank­furt in­ter­es­san­te In­itia­ti­ven.

Be­wun­derns­wert ist die Ge­schwin­dig­keit, in der vor 100 Jah­ren Wohn­raum und öf­fent­li­che Ge­bäu­de ge­schaf­fen wur­den. Es wird auch heu­te dis­ku­tiert wie sich ge­sell­schaft­li­che Pro­zes­se be­schleu­ni­gen las­sen. Die öf­fent­li­che Hand heu­te ver­fügt aber über deut­lich we­ni­ger Bo­den­flä­chen. Die Pri­va­ti­sie­run­gen der 1990er Jah­re rä­chen sich bit­ter. Hier muss über den Leer­stand schär­fer de­bat­tiert wer­den. Raum ist ja vor­han­den, er ist nur un­gleich ver­teilt. Woh­nen, aber auch Bil­dung, so­zia­le Für­sor­ge und Ge­sund­heit sind Grund­be­dürf­nis­se. Wir ha­ben ei­ne Miet­preis­ex­plo­si­on, die selbst Men­schen mit ei­nem mitt­le­ren Ein­kom­men un­ter Druck setzt. Um zu­rück zu ih­rer Fra­ge zu kom­men: Es be­steht in vie­len Fel­dern drin­gen­der Hand­lungs­be­darf. Die Haupt­an­re­gung aus dem „Neu­en Frankfurt“ ist doch die, dass der Mensch mit sei­nen Grund­be­dürf­nis­sen in den Mit­tel­punkt rückt, dass der so­zia­le Ge­dan­ke al­so nicht als ro­man­ti­sche Spin­ne­rei ab­ge­tan, son­dern als Ge­stal­tungs­auf­ga­be ganz prak­tisch an­ge­gan­gen wur­de. Und noch et­was fällt auf, wenn wir uns mit der Zeit nach dem Ers­ten Welt­krieg be­schäf­ti­gen: Trotz der po­li­ti­schen Kämp­fe und der so­zia­len Schief­la­ge gab es ei­ne wei­test­ge­hend po­si­ti­ve Vor­stel­lung von der Zu­kunft. Der Be­griff „Neu“ fällt ja in fast je­dem Ar­ti­kel je­ner Jah­re: Der neue Mensch, die neue Frau, die neue Woh­nung und die neue Stadt wa­ren ja nicht nur Pro­pa­gan­da, son­dern zeu­gen – bei al­ler kri­ti­schen Vor­sicht – auch von ei­nem Selbst­be­wusst­sein der Men­schen, die sich ver­än­dern­de mo­der­ne Ge­sell­schaft wir­kungs­voll mit­zu­ge­stal­ten.

„Die Haupt­an­re­gung aus dem ‚Neu­en Frankfurt‘ ist doch die, dass der Mensch mit sei­nen Grund­be­dürf­nis­sen in den Mittel­punkt rückt, dass der so­zia­le Ge­dan­ke al­so nicht als ro­man­ti­sche Spin­ne­rei ab­ge­tan, son­dern als Ge­stal­tungs­auf­ga­be ganz prak­tisch an­ge­gan­gen wur­de.“

Grit Weber

 

Auf der Dachterrasse in der Siedlung Bruchfeldstraße, Fotografie Dr. Paul Wolff, 1927, ISG FFM, S7Wo, 12 Bild, gemeinfrei

Ger­da Breu­er: Wo sind heu­te neur­al­gi­sche Punk­te? Die Zeit der Co­ro­na-Kri­se hat ge­zeigt, dass Frau­en in be­son­de­rem Ma­ße für die häus­li­che Ca­re-Ar­beit der Fa­mi­lie ent­spre­chend den al­ten Rol­len­bil­dern zu­stän­dig wa­ren. Aber auch, dass Be­rei­che des Ge­mein­wohls wie Kin­der­gär­ten, Schu­len und Kran­ken­häu­ser ver­nach­läs­sigt oder auch falsch be­treut wur­den. Der de­fi­zi­tä­re Zu­stand un­se­rer Bil­dungs- und Aus­bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen ist ein heu­ti­ges Dau­er­the­ma. Wie stel­len Sie die Ak­tua­li­tät mit ih­ren neu­en Pro­ble­men und Lö­sungs­vor­schlä­gen in der Aus­stel­lung dar?

Grit We­ber: Der lei­ten­de Ge­dan­ke für die Aus­stel­lung ist, das „Neue Frankfurt“ un­ter dem Be­griff des So­ci­al De­sign zu be­trach­ten. Be­vor sich ei­ne Idee in Form ei­nes De­si­gn­ob­jekts oder ei­ner Ar­chi­tek­tur ma­te­ria­li­siert, flie­ßt ge­wal­tig viel Ar­beit in den Auf­bau im­ma­te­ri­el­ler Struk­tu­ren: zwi­schen­mensch­li­che Be­zie­hun­gen und Ver­trau­ens­ver­hält­nis­se, so­zia­le Netz­wer­ke und Or­ga­ni­sa­tio­nen, die die Vor­aus­set­zung für die Um­set­zung als Ge­gen­stand, Haus, Sied­lung erst schaf­fen. Auch die Ar­beit an den so­zia­len Struk­tu­ren ist in mei­nem Ver­ständ­nis Ca­re-Ar­beit. Ca­re-Ar­beit schafft Mehr­wert in Form von so­zia­ler und öko­lo­gi­scher Le­bens­qua­li­tät, Bil­dung und Ge­sund­heit. Je nach Ei­gen­tums- und Ab­hän­gig­keits­struk­tu­ren ist die Ver­tei­lung von Für­sor­ge aber auch ein In­di­ka­tor für Aus­beu­tung, Un­ge­rech­tig­keit und Mar­gi­na­li­sie­rung. Wir be­han­deln die­se As­pek­te in ers­ter Li­nie mit Blick auf das „Neue Frankfurt“ – so ist auch der Ti­tel der Aus­stel­lung zu ver­ste­hen. Doch be­reits im Ka­ta­log ha­ben wir zeit­ge­nös­si­sche Fra­ge­stel­lun­gen un­ter­ge­bracht. Dar­über hin­aus wird es in der Aus­stel­lung In­ter­views mit Ak­teur*in­nen aus den Be­rei­chen Ge­sund­heits­vor­sor­ge, Bil­dung und so­zia­ler Für­sor­ge ge­ben, die ih­re Sicht auf die Pro­blem­la­gen – die „neur­al­gi­schen“ Punk­te, von de­nen Sie spre­chen – und mög­li­che Lö­sun­gen ver­mit­teln. Auch ha­ben wir die Er­geb­nis­se des For­schungs­se­mi­nars „Learning from Neu­es Frankfurt“ und das ver­ti­ka­le Stu­dio „Com­mon Hou­sing Fu­tures“ mit Prof. Ga­bu Heindl und Iva Marče­tić von der Uni­ver­si­tät Kas­sel als „Aus­stel­lung in der Aus­stel­lun­g“ im­ple­men­tiert, die sehr ak­tu­el­le und kri­ti­sche Fra­gen zur Wohn­si­tua­ti­on im heu­ti­gen Frank­furt zur De­bat­te stel­len. Die Aus­stel­lung lie­fert da­für den Rah­men, schafft so­mit ei­nen wei­te­ren Raum für den Dis­kurs, der sich dann im Be­gleit­pro­gramm ent­fal­tet.

Die „Frankfurter Küche“, entworfen von der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, als nach wie vor umstrittenes Objekt zur Emanzipation der modernen Frau. Bild © Isabela Pacini, #visitfrankfurt, plazy

Ger­da Breu­er: Ei­ner­seits ist Ca­re-Ar­beit im­mer noch ein The­ma von Frau­en, auf der an­de­ren Sei­te hat das „Neue Frankfurt“ auch her­aus­ra­gen­de Frau­en vor­zu­wei­sen, die die Pro­ble­me und Lö­sun­gen be­schrei­ben, teils auch be­wäl­tigt ha­ben. Sie wer­den, ver­mu­te ich, Fil­me von El­la Berg­mann-Mi­chel über ein­zel­ne In­itia­ti­ven zei­gen. Ein­zig­ar­tig ist aber auch Mar­ga­re­te Schüt­te-Li­hotz­ky. Sie hat sich ja be­schwert, dass sie im­mer nur mit der „Frankfurter Kü­che“ in Ver­bin­dung ge­bracht wird. Und in der Tat kann sie ein sehr um­fas­sen­des ar­chi­tek­to­ni­sches und ge­stal­te­ri­sches Werk vor­wei­sen mit Ent­wür­fen von Kin­der­gär­ten, Schu­len, Al­ten­hei­men etc. in der „Bri­ga­de May“ in der So­wjet­uni­on, aber auch in der Tür­kei, und schon vor Frank­furt in Wien. Sie wer­den, so­weit ich se­he, auch auf Frau­en- und Frau­en­er­werbs­ver­ei­ne auf­merk­sam ma­chen. Wel­che Rol­le spie­len ge­schlech­ter­spe­zi­fi­sche As­pek­te in Ih­rer Aus­stel­lung?

Grit We­ber: Ca­re-Ar­beit war und ist bis heu­te weib­lich kon­no­tiert. Oh­ne die Ar­beit von Frau­en und oh­ne die Ein­füh­rung struk­tu­rier­ter Bil­dungs­we­ge für sie – ei­ne der wich­tigs­ten For­de­run­gen aus der ers­ten Frau­en­be­we­gung um 1900 – ist die Um­set­zung des­sen, was da­mals Da­seins­für­sor­ge und heu­te so­zia­le Ver­ant­wor­tung hei­ßt, nicht dar­stell­bar. Frau­en ar­bei­ten als Leh­re­rin­nen, Kran­ken­schwes­tern, So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen, Kin­der­gärt­ne­rin­nen. Die­se Be­rufs­we­ge wa­ren da­mals das Tor zu ih­rer fi­nan­zi­el­len Un­ab­hän­gig­keit. Dar­in liegt aber auch die Zwei­schnei­dig­keit in Be­zug auf ei­ne neu­er­li­che Fest­schrei­bung auf so­zia­le Dienst­leis­tun­gen als „weib­li­che“ Tä­tig­keits­fel­der, zu­sätz­lich zu ih­rer un­be­zahl­ten Ar­beit im Haus­halt. Auch im „Neu­en Frank­furt“ soll­te ei­ne pa­ter­na­lis­tisch auf­ge­fass­te Um­er­zie­hung des Men­schen zum „Neu­en Men­schen“ statt­fin­den und auch die Be­woh­ner*in­nen der neu­en Sied­lun­gen soll­ten zu „bes­se­ren Wohn­sit­ten“ fin­den: mo­du­la­re Mö­bel, kei­ne Or­na­men­te oder De­ko­ra­tio­nen, son­dern ei­ne über­all pro­pa­gier­te Sach­lich­keit. Auch die Frau soll­te sich zur „Neu­en Frau“ ent­wi­ckeln, oh­ne aber ihr En­ga­ge­ment im Haus­halt auf­zu­ge­ben. Die­se dop­pel­te At­tri­bu­ie­rung der Frau als häus­li­ches und gleich­zei­tig de­fi­zi­tä­res We­sen, ge­hört in den da­Fma­li­gen Dis­kurs der von Män­nern do­mi­nier­ten Ar­chi­tek­tur­mo­der­ne wie das Flach­dach und die Ty­pen­mö­bel. In der Aus­stel­lung zei­gen wir dies, stel­len aber auch Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen vor, die selbst ak­tiv For­de­run­gen und Lö­sungs­an­sät­ze lie­fer­ten. Da­zu ge­hört ein in Frank­furt tä­ti­ger Frau­en­woh­nungs­ver­ein, der zur Bau­her­rin ei­nes für Frau­en ent­wor­fe­nen Wohn­hau­ses wur­de, aber auch die recht öf­fent­lich­keits­wirk­sa­men Haus­frau­en­ver­ei­ne. Und na­tür­lich bor­gen wir uns den Blick der in Frank­furt so stil­bil­den­den Künst­le­rin­nen wie El­la Berg­mann-Mi­chel, Il­se Bing oder Jean­ne Man­del­lo. Sie sind mit ih­ren Ka­me­ras schon da­mals in die so­zia­len Pro­blem­fel­der vor­ge­sto­ßen.

„Die dop­pel­te At­tri­bu­ie­rung der Frau als häus­li­ches und gleich­zei­tig de­fi­zi­tä­res Wesen, ge­hört in den da­ma­li­gen Dis­kurs der von Män­nern do­mi­nier­te Ar­chi­tek­turmo­der­ne wie das Flach­dach und die Typenmö­bel.“

Grit Weber

 

Studie für einen Film mit dem Arbeitstitel „Frankfurter Siedlungen“ von Ella Bergmann-Michel, Silbergelatineabzug, Frankfurt 1929–1932, Museum Folkwang Essen, Inv.-Nr. 228/91 © Sünke Michel

Ger­da Breu­er: Vie­le Ob­jek­te von Fer­di­nand Kra­mer bei­spiels­wei­se sind für das „Neue Frankfurt“ ent­wor­fen wor­den. Heu­te wer­den sie zum Teil wie­der neu pro­du­ziert. De­si­gn­lö­sun­gen im Sin­ne der Mo­der­ne wur­den hier rea­li­siert. Es sind aber auch All­tags­din­ge von Er­werbs­lo­sen un­ter der Lei­tung der Stadt­ver­wal­tung ge­baut wor­den. Über­haupt spiel­te die kos­ten­güns­ti­ge Or­ga­ni­sa­ti­on von Pro­duk­ti­on ei­ne gro­ße Rol­le. Könn­te man sich al­ter­na­ti­ve Pro­duk­ti­ons­for­men für ei­ne Be­völ­ke­rung mit ge­rin­gem Ein­kom­men auch heu­te vor­stel­len?

Grit We­ber: Fer­di­nand Kra­mer ist ein gu­tes Bei­spiel. Als De­si­gner war sein Im­puls, gu­te und ein­fa­che Din­ge für den all­täg­li­chen Be­darf her­zu­stel­len. Das ging so kos­ten­güns­tig, weil sei­ne Ent­wür­fe im­mer die­se ein­fa­che und so­li­de Pro­duk­ti­on be­rück­sich­tig­ten. Auch war die Lohn­ar­beit der pro­le­ta­ri­schen Schicht da­mals so güns­tig und wur­de noch güns­ti­ger, in­dem Er­werbs­lo­se für die Ar­beit her­an­ge­zo­gen wur­den. Wir ha­ben Fo­to­gra­fi­en aus dem His­to­ri­schen Mu­se­um, die sol­che Ar­beits­plät­ze in Frank­furt zei­gen. Aber wol­len wir dies heu­te wirk­lich den Men­schen zu­mu­ten? Das ma­ni­fes­tiert doch Aus­gren­zung! Un­ser heu­ti­ges Pro­blem ist ja nicht, dass wir ei­ne Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit ha­ben, wie es vor al­lem ab 1929 der Fall war. Un­ser Pro­blem ist auch nicht, dass die Men­schen sich nicht die Mö­bel leis­ten kön­nen, son­dern, dass sie kei­nen be­zahl­ba­ren Wohn­raum fin­den oder dass die Zu­gän­ge zu Bil­dung und Ge­sund­heit un­gleich ver­teilt sind. Auch sind die heu­ti­gen pre­kä­ren Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se und die Ri­si­ken bis auf ei­ni­ge Aus­nah­men in den glo­ba­len Sü­den aus­ge­la­gert. Wir ha­ben al­so ein Ver­tei­lungs­pro­blem. Und auch da­mals hat die ver­güns­tig­te Pro­duk­ti­on der Woh­nun­gen des „Neu­en Frankfurt“ al­len­falls die Mit­tel­schicht er­reicht. Für die pro­le­ta­ri­schen Schich­ten blie­ben die Häu­ser des „Neu­en Frankfurt“ weit­ge­hend un­er­schwing­lich.

Aber man könn­te sich heu­te durch­aus ei­ne bes­se­re ge­sell­schaft­li­che An­er­ken­nung ge­mein­wohlori­en­tier­ter Tä­tig­keits­fel­der den­ken. Ich fin­de die Ide­en zu ei­nem frei­wil­li­gen so­zia­len Jahr im­mer noch gut, wenn die­ses auch auf die Zeit zum En­de der Er­werbs­tä­tig­keit aus­ge­dehnt und struk­tu­rell eta­bliert wird. Es gibt vie­le Men­schen – jun­ge und äl­te­re, Frau­en und Män­ner – die sich heu­te schon po­li­tisch wie so­zi­al en­ga­gie­ren. Die­ses En­ga­ge­ment auf ei­ne rechts­si­che­re Grund­la­ge zu stel­len, ist vor al­lem im Hin­blick auf Fra­gen der Ge­mein­nüt­zig­keit und der Stär­kung der Zi­vil­ge­sell­schaft ab­so­lut not­wen­dig. Au­ßer­dem lohnt sich ein Blick auf die Ver­schrän­kung von Frau­en­er­werbs­tä­tig­keit und gu­ter Kin­der­be­treu­ung: Im eu­ro­päi­schen Ver­gleich hinkt Deutsch­land – ins­be­son­de­re die west­li­chen Bun­des­län­der – hin­ter dem Be­darf an Be­treu­ungs­plät­zen hin­ter­her. Die für das Ein­kom­men und die Ren­ten­er­war­tung so kon­tra­pro­duk­ti­ven Teil­zeit ist für die Be­rufs­kar­rie­ren von Frau­en ein ech­tes Pro­blem und schafft Al­ters­ar­mut.

Aus dem Film „Wo wohnen alte Leute?“ von Ella Bergmann-Michel, Format 35mm, schwarz-weiß, stumm, Frankfurt am Main 1931, DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt am Main © Sünke Michel

Ger­da Breu­er: Bleibt noch die sehr span­nen­de Fra­ge, wie sie mit ak­tu­el­len De­bat­ten um die Ca­re-Kri­se um­ge­hen. Wie wer­den die vie­len Dis­kurs­strän­ge be­han­delt, die das The­ma hat? Wer wird dar­an be­tei­ligt? Wer kommt zu Wort und wie? Wel­che Lö­sungs­bei­spie­le zei­gen Sie? Und wie in­te­grie­ren Sie ak­tu­el­le Fra­gen in die weit­ge­hend his­to­ri­sche Aus­stel­lung?

Grit We­ber: Das sind sehr vie­le Fra­gen auf ein­mal. Ein Teil ha­be ich ja schon be­ant­wor­tet. Au­ßer der di­rek­ten Sicht­bar­ma­chung in der Aus­stel­lung gibt es ein ziem­lich dis­kur­si­ves Be­gleit­pro­gramm mit Ko­ope­ra­tio­nen bei­spiels­wei­se zum „Wo­men in Ar­chi­tec­tu­re“-Fes­ti­val zum The­ma Ge­sund­heit und Stadt, wir or­ga­ni­sie­ren ge­mein­sam mit dem Deut­schen Ar­chi­tek­tur­mu­sem (DAM) und dem His­to­ri­schen Mu­se­um Frank­furt (HMF) ei­ne Sum­mer School, in der vor al­lem As­pek­te des Woh­nens als so­zia­le Schlüs­sel­fra­ge Ein­gang fin­den wer­den. Hier­zu ha­ben wir ei­ne Ko­ope­ra­ti­on mit dem Amt für Ju­gend und So­zia­les er­ar­bei­tet, ei­ne wei­te­re Zu­sam­men­ar­beit mit dem Ge­sund­heits­amt ent­steht ge­ra­de. Wir zei­gen das Er­geb­nis des For­schungs­se­mi­nars „Learning from Neu­es Frankfurt“ der Uni­ver­si­tät Kas­sel, von der ich oben schon sprach. Ei­ne wei­te­re Ko­ope­ra­ti­on ha­ben wir mit dem Mo­dell­bau­se­mi­nar der BTU Cott­bus um­ge­setzt, die in ih­rer Be­schäf­ti­gung mit dem „Neu­en Frankfurt“ Mo­del­le von ei­ner Pa­vil­lon­schu­le, ei­nem Wohn­haus für Äl­te­re Men­schen, aber auch zwei nie rea­li­sier­te Ge­bäu­de in der Aus­stel­lung zur Dis­kus­si­on stel­len – dem Volks­haus West von Max Cet­to und dem Montes­so­ri-Kin­der­haus von dem be­reits er­wähn­ten Fer­di­nand Kra­mer. Wir pro­du­zie­ren ei­nen Ka­ta­log, für den zahl­rei­che Au­tor*in­nen aus ganz un­ter­schied­li­chen Dis­zi­pli­nen ge­schrie­ben ha­ben. Er ver­bin­det das his­to­ri­sche Wis­sen über die Ca­re-Ar­beit von vor 100 Jah­ren und die ak­tu­el­le Dis­kurs­ebe­ne. Und mehr möch­te ich hier nicht vor­weg­neh­men. Es sol­len ja noch of­fe­ne Fra­gen und die Span­nung bis zur Er­öff­nung der Aus­stel­lung blei­ben.

Ger­da Breu­er: Vie­len Dank, lie­be Grit We­ber, für die aus­führ­li­che Be­schrei­bung des kom­ple­xen The­mas und sei­ner vie­len An­wen­dungs­fel­der. Ich wün­sche Ih­nen vie­le Be­su­cher*in­nen für die Aus­stel­lung, bin in der Tat da­von über­zeugt, dass vie­le sich da­von an­ge­spro­chen füh­len – ge­ra­de heu­te.

 

Yes, we care. Das Neue Frankfurt und die Frage nach dem Gemeinwohl

10.05.2025 – 11.01.2026
Kuratorin: Grit Weber
Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main

www.museumangewandtekunst.de




Literaturempfehlungen

Gerda Breuer (Hrsg.): Kramer, Ferdinand. Design für variablen Gebrauch. Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen, Berlin 2014

Klaus Klemp, Annika Sellmann, Matthias Wagner K, Grit Weber (Hrsg.): Moderne am Main 1919–1933. AV Edition, Stuttgart 2019 (Katalog zu der gleichnamigen Ausstellung im Museum Angewandte Kunst Frankfurt am Main).

Marcel Bois, Bernadette Reinhold (Hrsg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk. Birkhauser Verlag, Basel 2019. (Englische Ausgabe: Marcel Bois, Bernadette Reinhold (Hrsg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Architecture. Politics. Gender. New Perspectives on Her Life and Work. Birkhauser Verlag, Basel 2023)

Ulla Terlinden, Susanna von Oertzen (Hrsg.): Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbewegung und Wohnreform 1870 bis 1933. Reimer Verlag, Berlin 2006

Grit Weber

ist seit 2015 stell­ver­tre­ten­de Di­rek­to­rin am Mu­se­um An­ge­wand­te Kunst in Frank­furt am Main und Ku­ra­to­rin für De­sign, Kunst und Me­di­en. Nach ih­rem kunst­wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­um war sie zu­nächst als Jour­na­lis­tin tä­tig. Seit Som­mer 2024 ist We­ber im Vor­stand der Mar­tin El­sa­es­ser-Stif­tung en­ga­giert. Die zu­letzt von ihr ku­ra­tier­ten Aus­stel­lun­gen wa­ren „Ars Vi­va ’21: Rob Cros­se, Ri­chard Si­des, Sung Ti­eu“ (2020); „My­thos Hand­werk. Zwi­schen Ide­al und All­tag“ (2022); „Kra­mer lie­ben: Ob­jek­te. Ar­chi­tek­tur. Film. Kunst. Ge­spräch“ (2023) so­wie die Pu­bli­ka­ti­on „In Ma­te­ri­al den­ken: Das Mo­dell zwi­schen De­sign­pro­zess und Mu­se­ums­samm­lung“ (2024).