NACHRUF
Manche Dinge können wir drehen und wenden, wie wir wollen, sie haben Bestand. Für Michael Erlhoff durfte dieser Bestand für jede und jeden anders sein – und man durfte trefflich darüber streiten. Nun ist der Designtheoretiker, der einen ganzen Kosmos prägte, am 1. Mai 2021 verstorben.
Halt, Señor Rosenthal
Was ihm denn in der Auslage gefalle, wollte 1986 Philip Rosenthal von Michael Erlhoff (27. Mai 1946–01. Mai 2021) wissen. „Nichts“, hat dieser kurz und knapp geantwortet. Rosenthal, zu dieser Zeit Präsident des Rat für Formgebung, hatte Erlhoff zuvor vom Frankfurter Flughafen zum Bewerbungsgespräch um die vakante Position der Rat-Geschäftsführung abgeholt. Im legendären VW Bus Camper des Unternehmers war es dann ins Rosenthal Studio-Haus gegangen, das damals noch in der Friedensstraße in Sichtweite des Frankfurter Schauspielhauses residierte. Hier trafen zwei Unorthodoxe des Designs aufeinander; der ältere, promovierter Philosoph, hatte in den vergangenen 35 Jahren das Design entscheidend mitgeprägt; der jüngere, promovierter Literaturwissenschaftler, sollte das Design in den nächsten 35 Jahren in eine neue Richtung lenken, ihm neue Impulse verleihen. Sicht- und spürbarer als in diesem Moment kann ein Generationenwechsel wohl kaum sein.
Mir ist der weitere Verlauf dieses ungewöhnlichen Bewerbungsgesprächs nicht überliefert (oder auch einfach nur entfallen), aber ganz offensichtlich stand das erlhoffsche „Nichts“ seiner Einstellung als Fachlicher Leiter und Geschäftsführer des Rat für Formgebung im Jahr 1987 (–1990) nicht im Wege. In der Folgezeit richtete er den ermatteten Rat wieder auf und neu aus, trieb – ganz im Sinne der Satzung – die Internationalisierung der 1953 gegründeten Stiftung voran und bereitete dem Design Report den Weg als kritische Designzeitschrift. Im bald selbstbewusst Rat-Haus genannten, ehemaligen Pressezentrum auf dem Frankfurter Messegelände wurden Ausstellungen und Symposien ersonnen, mit Titeln wie „Gegenstand und Ritual“, „Unternehmenskultur und Stammeskultur. Metaphysische Aspekte des Kalküls“ oder „Geisteswissenschaftliche und sozioökonomische Aspekte in der Design-Ausbildung“. Das traf nun ganz und gar nicht den Designnerv der Zeit, sorgte aber für Gesprächsstoff. So mokierte sich etwa Michael Mönninger am 21. April 1989 im Feuilleton der FAZ über die „intellektuelle Kampfsporttruppe vom Rat für Formgebung“. Das war eine feine, heute selten gewordene Formulierung abgrundtiefer Wertschätzung.
Anrufung der Drehstuhlelfen – Unfug andrer: Fehlender Stuhl
Ob weiterhin als Beiratsmitglied der documenta 8 (1985–1987), als Gründungsdekan der Köln International School of Design – KISD (1991–2013), als Präsident der Raymond Loewy Foundation (1992–2006), ob als Herausgeber zahlreicher Publikationen, als Autor oder als Designtheoretiker: Michael Erlhoff war zeit seines Lebens ein Erfinder, Ermöglicher und Ermunterer. Er stiftete Freundschaften, förderte Karrieren, spann Netzwerke, riet zum Experiment, ermutigte zum Ausprobieren und forderte zum Denken auf. Als ich ihn einmal fragte, wie denn zu schreiben sei – eine hilflose Frage, ich weiß – antwortete er wie folgt: „Wenn Du eine Ausstellung mit hundert Stühlen rezensierst, darfst Du nicht über die hundert Stühle schreiben. Du musst über den Stuhl schreiben, der fehlt.“ Das war eine typische, kluge Erlhoff-Antwort, und ich habe eine Weile gebraucht, bis ich sie begriffen habe: Glaube nicht den Unfug anderer, gehe den Dingen selber auf den Grund, denke selber nach – nur so kommst Du als kritischer Geist voran.
Trügen sich alle, die ihr Vorankommen in den vergangenen Jahrzehnten in der ein oder anderen Weise einer Antwort Michael Erlhoffs zu verdanken haben, auf einer Weltkarte ein, es würde ein wahrlich großer Designkosmos sichtbar, bestehend aus Agenturen, Aufsichtsräten, Fakultäten, Gesellschaften, Professuren, Publikationen, Redaktionen, Schreibenden, Verlagen et cetera. Wenige können wie er für sich in Anspruch nehmen, so viel bewegt und initiiert zu haben.
Lebensnebel
Für Michael Erlhoff und Uta Brandes, die Freundin, wie er sie immer nannte, gab es keinen Unterschied zwischen Privatem und Beruflichem, selten etwa ergab die Komposition des Wortes Gastfreundschaft einen tieferen Sinn. Beide zeigten, dass, wie und wie gut das geht: ein gemeinsames Leben, von gegenseitigem Respekt und von großer Liebe und Hochachtung geprägt, an jedem Tag, über Jahrzehnte. Auch deshalb wiegt dieser Tod so schwer, und ich wünsche Uta, dass ihr aller Trost dieser Welt zuteilwerde.
Sich eines der letzten beeindruckenden Auftritte Michael Erlhoffs – und derer gab es viele in seinem Leben – zu erfreuen, war im vergangenen Jahr den Geburtstagsgästen von Wolfgang Laubersheimer, einer der Kosmonauten, vergönnt. Michael hielt eine fulminante Rede auf die Freundschaft, klug, persönlich und – vergnüglich wäre wohl ein Wort seiner Wahl gewesen.
Ob geschrieben, gesprochen, rezitiert oder performt, Sprache war Michael Erlhoffs Elixier, gegen alle Widrigkeiten, Rückschläge und Krankheiten, die das Leben für ihn bereithielt. Oft ließ er, in bester Dada-Manier, die Sprache selbst zu Wort kommen, gern mit vorwärts wie rückwärts zu lesenden Palindromen oder die Buchstabenfolge umstellenden Anagrammen. So, wie in „Musils Mulis“, seinem jüngsten Buch und ersten Roman, der dieser Tage, kurz vor seinem Tod, erschienen ist. In der biologischen Welt können sich Mulis nicht fortpflanzen, in der literarischen Welt jedoch können sie flugs zu einem berühmten Schriftsteller namens Musil mutieren und vice versa. Und dafür muss die Sprache niemanden um Erlaubnis bitten.
In diesem Sinne ist der palindromische Titel dieser Würdigung eben nicht nur eine Referenz an den großen Ratgeber Michael Erlhoff, sondern kann – aller Autorenschaft entbunden – auch als dessen Lebensmotto verstanden werden: „Tarne nie einen Rat.“
Manche Dinge können wir nämlich drehen und wenden, wie wir wollen, sie haben Bestand. Von Michael Erlhoff konnten wir dazuhin lernen, dass dieser Bestand für jede und jeden anders sein darf – und, dass darüber dann auch trefflich gestritten werden darf. Allen, die das begriffen haben, verleiht es eine große Stärke.